Wahlrecht für junge Erwachsene

Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Ab welchem Alter sind wir in der Lage, Wählerin und Wähler zu sein? Die Antwort eines Kinder- und Jugendpsychiaters ist eindeutig.

Von Gunther Moll

Erwerb von Fertigkeiten

Alle Kinder werden mit Fähigkeiten und Begabungen geboren, die sich nicht nur zu Fertigkeiten ausbilden können, sondern aus einem „inneren Antrieb“ heraus sogar wollen und müssen. Dazu treiben sie der Wille, alles selber machen zu wollen sowie Neugierde und Wissensdurst, alles herausbekommen, erkennen und verstehen zu wollen, an.

Von klein auf können, wollen und müssen sie aus diesem „Urantrieb“ heraus alles erlernen: Laufen, Essen, Sprechen, gemeinsames Spielen, Lesen, Schreiben und Rechnen, verlässliche Freundschaft, liebevolle Partnerschaft, fürsorgliches Großziehen der eigenen Kinder, friedvolles Zusammenleben in sozialen Gruppen, verantwortungsvoller Schutz unseres Planeten. Dafür gibt es keine genetisch vorgegebenen Baupläne (und auch kein angeborenes Verhaltensprogramm, in einer Demokratie Wählerin und Wähler zu sein). Entscheidend ist hingegen die Art und Weise, wie Kinder aufwachsen, was sie erleben, wahrnehmen, fühlen und denken, wie sie handeln, sich an vorgefundene Umgebungen anpassen sowie diese umgestalten und verändern. Was Kinder nicht erfahren, was sie nicht eigenständig erlernen und ausführen und somit in ihr Verhaltensrepertoire fest aufnehmen, wissen und können sie nicht. Dabei kann, wenn sie (dies gilt auch noch für Erwachsene) auf zu viele Begrenzungen und Verbote stoßen, Ablehnungen und Ausgrenzung erleiden oder durch Drogen sowie virtuelle Medien den Kontakt zum echten Leben verlieren, ihr „Urantrieb“ – und damit der „Motor“ für Selbstbestimmung, Freiheit und Zufriedenheit – verloren gehen (und sie „Nicht-Wähler“ werden).

Kinder sind von Geburt an aber nicht nur eigenaktiv, sondern auch prosozial eingestellt und ausgerichtet. Sie sind keine Einzelwesen, sondern für Kontakte, Beziehungen und das Leben in sozialen Gemeinschaften geschaffen, für das Gemeinsam und Miteinander machen, das Teilhaben und Mitbestimmen wollen sowie in Freiheit und Frieden zusammenleben können.

Kinder müssen alles erlernen. Dabei brauchen sie zur Ausbildung ihrer Fertigkeiten und Kompetenzen – und hierzu gehört auch, Wählerin und Wähler zu sein – eine so lange Entwicklungs- und Lernzeit, dass dafür ein ganz besonderer Lebensabschnitt, die „Kindheit“ geschaffen wurde.

Die Kindheit

Über zehntausende von Generationen hinweg erwarben unsere Vorfahren durch erfolgreiches Selber wie Gemeinsam machen, Entdecken von Neuem sowie Lösen schwieriger Aufgabe die Fähigkeit, die Abhängigkeiten vom Hier und Jetzt zu überwinden. Durch Denken und Planen wurden Lebensbedingungen, Umwelt und Zukunft immer stärker gestaltbar. Alles wurde ausprobiert, „Übung machte den Meister“. Der dadurch erreichte immense Zuwachs an Wissen, Techniken und Regeln erforderte aber eine immer länger werdende Lernzeit der Nachkommen, um erfolgreich möglichst viele Fertigkeiten erwerben und als Erwachsene anerkannt in sozialen Gemeinschaften leben zu können.

Die „Lösung“ der Gehirne unserer Vorfahren war ein Hinauszögern der Geschlechtsreife und damit der Partnersuche, der Fortpflanzung und des „Erwachsen seins“. Durch die damit erreichte Verlängerung des „noch ein Kind seins“ konnte sich der Nachwuchs in Ruhe einen umfassenden Wissensstand aneignen und zukünftige soziale Rollen in vielfältiger Weise spielerisch einüben.

In diesem Entwicklungszeitraum – der die ersten 12 bis 14 Lebensjahre umfasst – lernen Kinder immer besser, selbstständig zu sein, ihre Gefühle zu regulieren, Abhängigkeiten und Zusammenhänge zu erkennen, sich selbst Ziele zu setzten, längerfristige Pläne zu entwerfen und trotz Ablenkungen und Hindernissen wirkungsvoll umzusetzen, Auswirkungen ihres Verhaltens auf Mitmenschen, Natur und Umwelt abzuschätzen sowie im Team sicherer und erfolgreicher als alleine zu sein.

Nochmals deutlich erweitert wurden Erwerb und Ausformung dieser Fertigkeiten durch die erst wenige Generationen zurückliegende verpflichtende Einführung einer „Schulzeit“.

Die Schulzeit

In diesem Lernzeitraum können und müssen die kognitiv-kulturellen Fertigkeiten, Werte und Haltungen sowie gegenseitige Unterstützung und soziale Verantwortung weiter geübt und vertieft werden. Staat und Politik haben dabei – dies schreibt die UN-Kinderrechtskonvention verbindlich vor – die Bildung eines jeden Kindes darauf ausrichten, seine „Persönlichkeit, Begabung und geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen“.

Dafür ist ein breites Themen- und Stoffangebot notwendig. Zu diesem gehört von Anfang an auch die politische Bildung. Diese kann in den Lehrplänen Fächerübergreifend abgebildet und mittels Projektarbeiten mit Entwürfen eigener Wahlprogramme, Diskussionen der Parteiprogramme aus Sicht der verschiedenen Schulfächer, „Wahlkampf“ von Klassen gegeneinander und vielem anderen mehr vermittelt werden. Damit können alle Schülerinnen und Schüler in ihren ersten sechs bis acht Schuljahren die Grundlagen für ein gutes Leben in Gesundheit, Freiheit, Verantwortung, Selbstbestimmung, Gemeinwohl und Frieden wie auch – im besonderen – die Voraussetzungen und Fertigkeiten zum Wählen erwerben. Wenn Schülerinnen und Schüler nach acht Schuljahren nicht darüber verfügen, wurde ihnen dies nicht vorgelebt, gelernt, erfahrbar gemacht und vermittelt.

Die Schlussfolgerung

Nach dem Säuglings- und Kleinkindalter haben wir einen zehn Jahre langen Lebensabschnitt voller freier Zeit, Ungebundenheit und spielerischem Ausprobieren und Erleben geschenkt bekommen. Diese Lern-, Spiel- und Übungszeit noch ohne Verantwortung für Auskommen, Gemeinschaft und Zukunft müssen wir unseren Kindern erhalten. Die Kindheit endet mit dem Eintritt der Geschlechtsreife – im Durchschnitt zwischen 12 und 14 Jahren -, dem biologischen Kriterium für Erwachsen sein.

Mit 12 Jahren, spätestens mit 14 Jahren, können für die Gemeinschaft verantwortliche und in die Zukunft gerichtete Entscheidungen getroffen werden. Hierzu haben Kinder die emotionalen Grundlagen vor allem in der Familie, die sozialen Fertigkeiten weiter im Kindergarten und die kognitiven Fertigkeiten zusätzlich in den ersten sechs bis acht Schuljahren erworben. Sie sind nun mutig, entschlossen, zu neuen Wegen und Lösungen bereit sowie verlässlich und verantwortungsbewusst für ihre Mitmenschen wie für unseren Planeten, dem sozialen Kriterium für Erwachsen sein.

Mit 14 Jahren sind aus Kindern junge Erwachsene geworden. Und Erwachsene dürfen wählen.

Ein Ausblick

Mit ihrem „Urantrieb“, ihre Bildung und ihre Ausrichtung in die Zukunft werden die jungen Erwachsenen den „Sinn des Lebens“ von Äußerlichkeiten und Dingen hin zu Erlebnissen und Beziehungen sowie die Wirtschafts- und Konsumziele vom Neuesten, Billigsten und Größten hin zum Nachhaltigsten und Kreislauffähigsten wandeln. Davor fürchten sich aber diejenigen, welche die Macht der „alten“ Erwachsenen, des Staates, der „Lobby-Politik“ und der Geld-Finanz-Wirtschaft um jeden Preis erhalten wollen. Deshalb unterstellen sie der jungen Generation noch Unreife und Unfähigkeit, die „wichtigen Angelegenheiten“ des Lebens und der Politik schon zu verstehen.

Die jungen Erwachsenen werden uns aber allen zeigen, was „in ihnen steckt“. Wenn wir sie nur mitmachen, teilhaben und mitentscheiden lassen. Und dazu gehört das Wahlrecht.

 

Professor Dr. Gunther Moll
Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Buchautor und Kommunalpolitiker

Quelle: https://www.pressenza.com/de/2023/03/wahlrecht-fuer-junge-erwachsene/

Die Sicht eines Kinderpsychiaters auf unsere Schwachstellen

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Welt - Süchtig nach Macht - Voller Angst - Spielsucht - Gestörtes Sozialverhalten: Diese „Diagnosen“ hatte ich dem politischen Establishment zugeschrieben und meine Sicht mit der Frage beendet, wieso wir uns von diesem unseren Alltag und unser Leben bestimmen lassen? Liegt dies etwa auch - so kam es mir eines Tages in den Sinn - an uns selbst? Haben wir, wenn nicht Diagnosen, so doch „Schwachstellen“, die uns beeinflussbar, ja sogar manipulierbar machen? Schwachstellen, die in unserer Vorgeschichte begründet liegen und deren Ausbildung davon abhängt, wie wir als Kinder aufwachsen und als Erwachsene leben?

Einsamkeit

Von Geburt an sind wir alleine nicht lebensfähig. Wir brauchen Mitmenschen - und dies unser ganzes Leben lang. Dabei sind wir grundsätzlich auf ein soziales Miteinander ausgerichtet. Dieses müssen wir aber selbst erfahren, einüben und - von klein auf bis ins höchste Alter - im Alltag leben.

Beim Fehlen wird das urbiologische Verlangen nach Nähe und Gemeinsamkeit so stark, dass unser „sozialer Antrieb“ von „falschen Freunden“ wie von Gruppen, Vereinen oder Parteien ausgenutzt werden kann. Die Angst alleine zu sein beziehungsweise bleiben zu müssen kann sogar so groß werden, dass wir uns solchen anschließen, deren Inhalte und Ziele wir nicht näher kennen oder gutheißen, die uns aber eine Gemeinschaft, ja „Heimat“ versprechen.

Einsamkeit kann uns Menschen schwer krank, ja „verrückt“ machen und ein Leben in tiefer Verzweiflung und Depression bedeuten. Wir Menschen können an Einsamkeit sogar versterben.

Unsicherheit

Wir Menschen müssen in Sicherheit leben, um uns wohl fühlen zu können. Dafür brauchen wir vertraute Personen sowie geregelte Abläufe. Bei Unbekanntem oder gar Gefahren beruhigt uns im Kleinkindesalter ein „In den Arm nehmen“ und „Es ist gut, wir sind bei Dir“ der Eltern. Später hilft ein „Wir sind für dich da“ der Familienmitglieder und Freund*innen, der Kolleg*innen in Studium, Ausbildung und Beruf sowie ein „Wir kommen sofort“ von Rettungsdiensten, Polizei und Feuerwehr.

Wir benötigen so sehr Sicherheit, dass wir Gefahr laufen, beim Fehlen - oder bei beabsichtigten Verunsicherungen („Die gefährlichen Flüchtlinge“) - getäuscht zu werden und auf „einfache“ Versprechungen oder gar Lügen hereinzufallen. Dabei können wir am Bestehenden und Bekannten festhalten und immer wieder dieselben Verhaltensweisen ausführen, fast wie bei starken Zwängen (oder gar einer Zwangsstörung).

Fremdes

Im Alter von etwa sieben Monaten beginnen Menschenkinder zu „fremdeln“. Sind Mama, Papa oder eine andere vertraute Person anwesend, ist „alles wieder gut“. Diese Wirkung üben Vertrautheit - und abgeschwächt - Bekanntschaft das ganze weitere Leben hinweg aus.

Kommen wir hingegen mit Ungewohntem oder gar Fremdem in Kontakt, werden wir vorsichtig, unsicher, ja sogar ängstlich. Der oder die Andere könnte ja gefährlich sein, die hunderttausende von Jahren lange Erfahrung unserer Vorfahren - von Raub und Misshandlungen bis hin zu Krieg und Morden.

Die urmenschliche Vorsicht vor dem Anderen und Fremden kann sich bis zu einer Angststörung mit extremem Vermeidungsverhalten ausweiten. Vor allem, wenn man selbst gefährliche Situationen erlebt hat beziehungsweise - ebenfalls wirksam, um diese Urangst zu aktivieren - deren „schlimme Absichten“ oder „Bösartigkeiten“ immer wieder mitgeteilt, in eindrücklichen echten wie gefälschten Bildern aufgezeigt und - sogar ohne Vorliegen von Taten - „eingeredet“ bekommt.

Unser Gehirn kann - eine seiner „Konstruktionsfehler“ - auch etwas für wahr halten, was wir nicht selbst persönlich erlebt haben. Deshalb können Kindererziehung und „Schulbildung“ ebenso wie moderne Medien und Werbung so erfolgreich sein, im Guten, wie aber auch - durch Fälschen, Manipulieren und Lügen - im Schlechten.

Zu kurz kommen

Über ewige Zeiten hinweg mussten unsere Vorfahren tagein-tagaus auf Wasser- und Nahrungssuche gehen. Die Angst, verdursten und verhungern zu können, ist deshalb tief in unsere Gehirne eingegeben.

Diese Urangst kann heute noch weiterwirken: Nicht rechtzeitig an der Reihe zu sein; übergangen zu werden; nicht zur Gruppe zu gehören; keine Anerkennung zu bekommen; zu den Verlierern zu zählen; nicht genügend finanzielle Mittel für sich und seine Familie zu haben, ja in Armut leben zu müssen.

Diese Angst, materiell, emotional und sozial zu kurz zu kommen und nicht beachtet zu werden, kann zu einer erhöhten Ablenkbarkeit und Unruhe sowie zu kurzfristigem, unüberlegtem, impulsivem Verhalten führen, selbst bei Menschen, die für gewöhnlich ruhig, gelassen und überlegt handeln. Sie kann sogar so stark das Verhalten bestimmen, dass ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom beschreibbar ist.

Die große Urangst „zu verdursten und zu verhungern“ kann uns für Täuschungen und Manipulationen so empfänglich machen, dass wir - ohne dies zu bemerken - auf „populäre“ Maßnahmen, kurzfristige Versprechungen und schnelle „Verheißungen“ von Werbung und Konsum hereinfallen.

Neid

Kinder wollen alles ausprobieren und selber machen. Dazu müssen sie so oft und lange wie möglich spielen. Dann wird aus einem anfangs „Alles haben wollen“ eines Kleinkindes ein „Gemeinsam spielen und teilen können“, die Grundlage jeden sozialen Miteinanders. Wenn sie dabei nicht zu sehr gestört, begrenzt und bevormundet sowie bei neu Erlerntem beachtet und im richtigen Ausmaß gelobt werden, erwerben sie die große Fähigkeit, an sich zu glauben und selbstbewusst zu sein.

Lernen Kinder dazu noch, sich über Erfolge anderer zu freuen, selbst jedoch bescheiden zu bleiben, können sie zufriedene Erwachsene werden. Dann haben Neid, Missgunst und Eifersucht, welche seit Jahrtausenden Geschichte und Schicksal so vieler Menschen, Familien und ganzer Länder bestimmen, keine Chance, einen Platz in ihren „Herzen“ zu finden. Unter falschen Vorbildern, Langeweile, unzureichenden Aufgaben, Zielen und Erfolgen sowie einer Ausrichtung nach Äußerlichkeiten können diese aber heranwachsen, ja das ganze Leben bestimmen.

Unter diesen Umständen können wir „Spielball“ von Unterstellungen, Intrigen, Lügen und Propaganda werden. Kommen noch große Unsicherheit und starkes Misstrauen hinzu, können sich Neid, Missgunst und Eifersucht sogar bis hin zu einer psychotischen Symptomatik mit Wahnvorstellungen ausweiten.

Gier

Pflanzen brauchen den richtigen „Standort“; bei zu viel wie zu wenig an Sonnenlicht und Niederschlägen sind Wachstum und Überleben in Gefahr. Wir Menschen müssen selbst - durch Vorbilder, Erziehung und Lebensführung der Erwachsenen vermittelt - das richtige Maß finden, damit unser „Gleichgewicht“ nicht verloren geht. Dabei gibt es keine längeren konstanten Zustände - und bei extremen Ausschlägen sogar ein „Umkippen“ in das Gegenteil (zum Beispiel „Fressanfälle“ nach einer Diät mit starker Gewichtsabnahme).

Alles kann bei uns Menschen eine Kehrseite haben und vor allem ein „zu wenig“ in seinen Gegenpol umschlagen. Aus Mangel kann Habgier, aus Minderwertigkeit Geltungssucht, aus Missachtung Machtstreben werden. Dabei können Geld und Macht über Andere - vor allem bei fehlender Zufriedenheit und Lebensfreunde - eine so starke Anziehungskraft ausüben, dass sie Menschen süchtig machen. Das Belohnungssystem ihres Gehirns ist dann - wie bei einer Suchterkrankung - ausschließlich auf noch mehr haben und beherrschen müssen „festgestellt“.

Auf Gier, Geltungssucht und Machtstreben zielen Wirtschaft, Politik, Werbung und ihr „Hilfsmittel“, die neuen virtuellen Medien, bewusst ab, um Gewinn, Rendite sowie Konsum und Spielzeit als „Werte an sich“ in immer höhere Dimensionen zu treiben.

Vergeltung

Auge um Auge, Zahn um Zahn. Man geht mit einem Anderen genau so um, wie man selbst behandelt wurde. Hat er mich beleidigt, belogen oder bestohlen, mein Haus abgebrannt oder mein Dorf überfallen, geschieht ihm dasselbe - Rache, Sühne, „Heimzahlen“ bis zum „Auslöschen“ ganzer Bevölkerungsgruppen.

Damit soll der Angreifer nicht nur bestraft, sondern darüber hinaus „Kampfunfähig“ gemacht werden. Deshalb muss die Vergeltung so stark sein, dass dieser über keine Mittel mehr zu einem erneuten Angriff verfügt. Fast ewige Zeiten lang galt - und gilt auch heute noch in vielen Regionen, Terror- und Kriegsgebieten - dieser Grundsatz, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Kinder müssen in Schutz und Geborgenheit aufwachsen sowie teilen und gemeinsam handeln lernen, damit Vergeltung nicht zur bestimmenden Verhaltensweise werden kann - und alle Erwachsenen in persönlicher, ökonomischer, kultureller, religiöser und sozialer Sicherheit leben.

Falls dies nicht gelingt - oder in einem Land mit Gewalt, Terror und Krieg gar nicht möglich ist - kann das Streben nach Vergeltung das Leben vollkommen in Besitz nehmen. Zerstörung um jeden Preis ist dann der Lebensinhalt, auch damit einem selbst, seinen Angehörigen, seiner ethnischen Gruppe oder seinem ganzen Land niemals wieder ein erneutes Trauma widerfährt.

Trauma / Dissoziation

Hunderttausende von Jahren waren unsere Vorfahren großen Gefahren ausgesetzt. Hierin gründet unsere Urangst vor gefährlichen Situationen, in die man jederzeit geraten kann. Verluste, Erkrankungen, Trauer und Leid, welche wir und uns Nahestehende im Leben erfahren, halten diese bis heute aufrecht. 

Das Erleiden von Bedrohungen, Katastrophen oder anhaltenden schwer belastenden Lebenssituationen hat eine so starke Wirkung auf unser Gehirn, dass eine Trauma-Störung entstehen kann. Dann machen (oft schlagartig) aufdrängende Erinnerungen an die Verletzungen, Erniedrigungen, Gewalt und Zerstörung, körperlichen und seelischen Misshandlungen sowie Alpträume, Reizbarkeit, erhöhte Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit und die Vermeidung von allem, was nur irgendwie Rückerinnerungen wachrufen könnte, das Leben zum Gefängnis und Hölle.

Die Angst, Furchtbares, Grauenhaftes oder Böses erneut erleben zu müssen beziehungsweise solchem hilflos ausgeliefert zu sein kann zudem zu Dissoziationen führen. Hier gehen Bewegen, Wahrnehmen, Fühlen, Denken und / oder Bewusstsein in voneinander abgetrennte Zustände verloren, in denen man ohne Zeit, Ortung, Ansprache und Reaktion Minuten bis Stunden lang „lebendig“ erstarrt - ein verzweifelter Versuch unseres Gehirns, schlimmsten Erinnerungen und Traumatisierungen - wenigstens teil- beziehungsweise zeitweise - zu entkommen.

Vermeidung

Täglich berichten die Medien von schweren Unfällen, Hungersnöten, Anschlägen und Kriegsgreueln - und die großen Ungerechtigkeiten, Armut und Betrug sowie die Folgen der zunehmenden Zerstörung unseres Planeten, seiner Artenvielfalt und Klimasysteme sind - auch wenn wir nicht darüber nachdenken - in unseren Gehirnen präsent. Eine Möglichkeit, mit diesem Wissen und Bewusstsein ebenso wie mit dem „schlechten Gewissen“ gegenüber Kindern und Enkeln umzugehen ist - als eine „Alltagsform“ der Dissoziation - die Gefahr zu verdrängen, „Augen und Ohren zu verschließen“, die durch Werbung, Medien oder Alkohol und andere Drogen erzeugten Vortäuschungen einer heilen Welt „aufzusaugen“ und - ähnlich einem süchtigen Spieler - darauf zu setzen, dass alles doch noch gut gehen wird.

Wir Menschen können alles versuchen, um nicht mit Gefährlichem, Unheimlichem, Schrecklichem und Bösem in Berührung zu kommen. Dann kann eine „Dissoziation“ im Alltag dazu führen, dass wir - aktuell bei der Zerstörung der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten - diesen weiter „gegen die Wand“ fahren lassen. Denn wir können „Weltmeister“ im Vermeiden und Dissoziieren und damit unfähig sein, Probleme anzugehen und mit konkreten Maßnahmen zu lösen, selbst wenn wir auf einen Abgrund zusteuern.

Scham

Von klein an sind wir aufnahmebereit und empfänglich für Reaktionen, Lob oder Tadel, Zustimmung, Ablehnung oder gar Zurückweisung unserer Mitmenschen. Mit dieser sensorisch-emotionalen Empfindlichkeit steuern und regulieren wir das einem anderen, zuerst noch unbekannten Menschen „ganz nahe kommen“ können, auch um nicht in der Seele verletzt zu werden. So schämen wir uns, wenn wir uns verlegen und vor anderen „nackt“ und bloßgestellt fühlen. Besonders wenn es um unsere innersten Sehnsüchte und Wünsche geht und diese gar noch den moralischen Erwartungen der Gesellschaft widersprechen.

Solche höchst unangenehmen, peinlichen Zustände versuchen wir um jeden Preis zu vermeiden, da wir sonst die Achtung und Stellung in der Gruppe verlieren könnten. Deshalb übernehmen wir familiäre, gesellschaftliche oder kulturelle Normen und Rollen, um ja nicht in „missliche Lagen“ zu kommen: „Wie kannst Du nur!“; „Oh wie peinlich!“; „Schämst Du dich nicht?“; „Du bist die Schande unserer Familie!“.

Das tiefe und intime Empfinden von Scham kann uns hilflos und verletzbar machen und - von der persönlichen wie gesellschaftlichen Verhaltensnormierung und Begrenzung bis zur Abhängigkeit - ausgenutzt werden. Diese „gesellschaftliche Waffe“ ist, wie die schon seit Jahrhunderten bestehende Verleugnung der weiblichen Sexualität aufzeigt, unglaublich stark. Auch heute noch.

Schuld

Schon als Kinder können wir uns nicht nur beschämt, sondern darüber hinaus auch für etwas schuldig fühlen; selbst wenn es offensichtlich ist, dass wir für ein Unglück oder Fehlverhalten gar nichts können.

Dieses bedrückend-einengenden Gefühl entsteht, wenn wir aus eigener Unsicherheit heraus glauben, die an uns gestellten Erwartungen sowie die vom gesellschaftlichen „Man“ („Man tut dies nicht!“) geforderten Verhaltensnormen nicht zu erfüllen.

Ein sich schuldig fühlen kann sogar „eingeimpft“ werden: Durch immer wieder gehörte Aussagen wie: „Hast Du nicht aufpassen können …“; „Nur wegen Dir …“; „Du alleine bist Schuld daran …“. Dies kann einen Menschen - ebenso wie die religiöse Steigerung, eine Sünde begangen zu haben - bis in höchste Selbstzweifel, Ängste, Zwänge, Selbstverletzungen sowie in eine schwere Depression treiben.

Schuldgefühle können nicht nur einem Einzelnen sein Leben schwer bis unerträglich machen, sondern als Schuldzuschreibung gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch auf ganze Gruppen und Länder ausgeweitet werden. Dies führt zur Meinung bis schließlich sogar Überzeugung, dass Missstände nicht an einem selbst, sondern nur an „den Anderen“ liegen.

An ganz bestimmten Anderen, die den „Sündenbock“ hergeben müssen. Diese Rolle kann von Institutionen, Parteien oder Regierungen bis ganzen Staaten sozialen Gruppen sowie ethnischen, kulturellen oder religiösen Gemeinschaften zugeschrieben werden, um von eigenen Fehlern, Unzulänglichkeiten, Defiziten bis hin zu Betrug und Verbrechen abzulenken. Dann ist der Weg zu Hass auf die Anderen und Fremden nur noch ein kurzer. Unsere Menschheitsgeschichte ist voll davon.

Gewissen

Wir spüren „instinktiv“, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Zuerst ein unbestimmtes „komisch“ sein, später ein fast schon Gewisses „da stimmt etwas nicht“. So können wir das Verhalten anderer Menschen, die „Stimmung“ in einem Raum oder einer Situation gefühlsmäßig erfahren und einschätzen. Dasselbe gilt für uns selbst. Wir haben ein tief verwurzeltes Gespür dafür, dass oder wenn wir etwas falsch machen beziehungsweise mit uns und unserer Umgebung falsch gemacht wird.

Dieses „hautnah“ spüren, wenn wir andere schlecht behandeln oder anderen Schlimmes zufügen ist der Weg zu unserem Gewissen mit seinen inneren Überzeugungen und Werten. Dieses hatte sich durch das immer stärkere Zusammenleben in sozialen Gruppen über Jahrtausende hinweg ausgebildet und das auf Erfahrung und Wissen beruhende Denken und Verhalten eines Menschen mit geprägt und geleitet.

Ein „schlechtes Gewissen“ kann so - im Umgang mit Menschen („Armut“), Tieren („Massentierhaltung“) oder der Umwelt („Vermüllung“) - eine Verhaltensänderung zum Besseren bewirken. Oder aber, das schlechte Gewissen kann auf vielfältigste Weisen beruhigt werden. Durch Ablenkung, Konsum, Internet und Computerspiele, falsche Informationen („so schlimm ist es doch gar nicht“), durch „Wegsehen“, Aggressivität gegen sich selbst wie andere sowie Alkohol, Tabletten und Drogen. Oder es kann - wie Scham, Schuld und Sünde - manipuliert werden, indem ein „schlechtes Gewissen“ eingeredet und gemacht wird.

Virtuelle Welten

Leben ist Rhythmus, Aktivität und Ruhe, Wachsein und Schlaf, eingebunden in den Tag-Nacht-Zyklus unseres Planeten. „Quelle“ des Aktiv seins sind unser Urantrieb und unsere Neugierde.

Wenn sich diese nicht „ausleben“ dürfen, können sie - so über in Krippe, Kindergarten, Schule, Ausbildung und Berufswelt immer wieder erlebtem warten müssen, nicht an die Reihe kommen und von „Routinearbeiten“ gelangweilt sein - mehr und mehr verloren gehen. Ganz „modern“ in unserer Menschheitsgeschichte finden diese aber schnell neue Betätigungsfelder: Sie können über Handy, Konsole und Computer fast jederzeit in abenteuerliche und interaktive virtuelle Welten „entfliehen“ und in diesen die Belohnungssysteme des Gehirns zum „Feuern“ bringen.

Fehlen im echten Leben Beziehungen, die Geborgenheit und Freude schenken und Tätigkeiten, die Erfolg und Zufriedenheit bringen, werden die Medien- und Computerzeiten bald länger und länger. Dem Gehirn wird dabei immer stärker vorgespielt, wir nehmen am Leben teil, kommunizieren mit anderen und treffen eigene Entscheidungen. Die Folge kann eine Spielsucht sein, eine Suchterkrankung mit vollständigem Verlust von Freiheit und Selbstbestimmung.

Raum und Zeit

Eines Tages begannen unsere Vorfahren, die Urzeiten lang im Hier und Jetzt lebten, sich aus der Abhängigkeit der Gegenwart zu befreien und in die Zukunft hinein zu planen und zu handeln. So war es ihnen, unter vielem anderen, möglich geworden, auch die längsten und kältesten Winter zu überleben.

Diese große Fähigkeit kann aber „ins Leere“ laufen, wenn es sich um sehr langfristige und komplexe, vor allem nicht lineare Prozesse handelt. So haben wir für die in wenigen Jahrzehnten bedrohlich werdenden Vorgänge wie Erderwärmung oder Artensterben kein „körperlich“ spürbares Raum-Zeit-Empfinden.

Die fehlende Wahrnehmungsfähigkeit für über lange Zeiträume global ablaufende Prozesse macht uns für falsche Informationen („ganz normale Warmphase“; „es gab schon immer Artensterben, siehe Dinosaurier“) wie falsche Versprechungen („alles gar nicht so schlimm“; „alles reparierbar“) empfänglich und manipulierbar. Besonders, wenn wir in einer „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Welt“ gar nicht mehr zum Nachdenken und zum Einsatz unserer Vernunft kommen.

Schlussfolgerung

Wir Menschen kommen nicht fertig auf die Welt. Wir müssen alles erfahren und erlernen. Durch ein Aufwachsen in Sicherheit, Liebe, festen familiären Bindungen und vertrauensvollen sozialen Beziehungen sowie durch vorbildliche Vermittlung der Inhalte und Haltungen, welche die Vereinten Nationen in ihren Menschenrechtserklärungen vorgeben, kann verhindert werden, dass aus unserer Vorgeschichte herrührende Reaktionsweisen und Verhaltensprogramme zu „Schwachstellen“ werden.

Denn diese können bewusst ausgenutzt werden, um Einfluss und Macht über Menschen zu gewinnen und ihr Erleben, Denken und Handeln - einschließlich Konsum und Wahlentscheidung - zu bestimmen. Von bösen Menschen werden unsere Schwachstellen sogar bewusst verstärkt und aufrechterhalten. So werden Gewalt und Terror ausgeübt, um Menschen zu traumatisieren, zu zerstören sowie in Abhängigkeit und „Schockstarre“ zu halten. Dabei führt Gewalt zu Gewalt, Terror zu Terror und Krieg zu Krieg …

Uns Erwachsenen muss deshalb bewusst sein:

- mit welchem Einsatz und welcher vorbildlichen Haltung wir Kinder großziehen und welche Umgebung wir ihnen bieten müssen, damit sie gegen Manipulation, Fremdbestimmung, Unterdrückung, Ausbeutung und das Schlechte und Böse immun werden.

- auf welche Art und Weise wir selbst leben sowie mit unseren Mitmenschen umgehen müssen - und welche Bedeutung und Auswirkungen dies für unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit, unsere Menschlichkeit und den Zustand unseres Planeten hat.

Behandlung

Nach der Sicht eines Kinderpsychiaters auf das politische Establishment sowie auf unsere Schwachstellen lassen sich drei „Entzugsbehandlungen“ ableiten:

- Weg vom Abhängig und Bestimmt sein vom politischen Establishment mit seiner Machtsucht und Lobbypolitik hin zu selbstbewussten, nur ihrem Gewissen, dem Grundgesetz unseres Landes und den Erklärungen der Vereinten Nationen verpflichteten Abgeordneten ohne Fraktions- und Koalitionszwang.

- Weg vom Verlieren und Gefangen sein in „Zeiträuber“ wie Äußerlichkeiten, Vergleich mit „den Anderen“, Werbung, Konsum und virtuellen Welten hin zu Achtsamkeit mit uns selbst, unseren Mitmenschen und unserer Umwelt sowie „Investition“ der eigenen Lebenszeit in Partnerschaft beziehungsweise Kinder und Familie sowie soziale Kontakte, Aktivitäten und Beziehungen.

- Weg vom Manipuliert und Ausgenutzt werden vom neoliberalen Wirtschaftssystem mit seiner zerstörerischen Ausrichtung nach Profit und Wachstum um jeden Preis hin zum sozialen und ökologischen Wirtschaftsmodell der Gemeinwohl-Ökonomie mit einem Wirtschaften zum Wohle aller für ein gutes Leben auf einem lebenswerten Planeten.

 

Professor Dr. Gunther Moll

Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen

www.gunther-moll.de

www.facebook.com/Professor.Gunther.Moll

 

Zuerst veröffentlicht in: https://neue-debatte.com/2019/11/16/die-sicht-eines-kinderpsychiaters-auf-unsere-schwachstellen/

 

Bücher um Thema:

Gunther Moll & Benjamin Moll: HIN UND HER GERÜCKT (Der erste Teil). Papeto Verlag 2017

Gunther Moll & Benjamin Moll: DER UMBRUCH: Wie Kinder, Eltern und Großeltern unser Land veränderten. Papeto Verlag 2016

Gunther Moll, Sarah Benecke, Günter Grzega: DIE VORSTUFE ZUM PARADIES für uns alle. Papeto Verlag 2018

Die Sicht eines Kinderpsychiaters auf das politische Establishment

Im Oktober 2018 durfte ich als einer von vier Diskutanten an einer Gesprächsrunde mit dem Titel Ab auf die Couch - wie gestört ist unsere Gesellschaft? teilnehmen. Die Positionen des Psychoanalytikers Hans-Joachim Maaz, der Sozialpädagogin Birgit Assel, des Psychologen Franz Ruppert sowie des Gastgebers Ken Jebsen hatte mich beeindruckt und zum weiteren Nachdenken angeregt. So erweiterte ich die Gedanken aus dem 2012 erschienenen Buch „DieKinderwagenRevolution“, welches ich zusammen mit meinem Sohn Benjamin geschrieben hatte, zu einer Sicht eines Kinderpsychiaters auf das politische Establishment …

Eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Welt

Rasch, sprunghaft, flüchtig, überstürzt. Eine einzige Beschleunigung, ohne Bremse gegen die Wand. Immer weniger Tiefe und dauerhafte Gefühle sowie berührt, bewegt und betroffen sein von anderen Menschen. Immer seltener Herzenswärme, Rücksicht und Respekt. Dafür Oberflächlichkeit, Egoismus, Sachlichkeit. Langeweile, „bore-out“, Sinnlosigkeit, „burn-out“. Das heutige Leben, eine drohende emotionale Eiszeit, ein drohender gesellschaftlicher Kollaps.

Unbegrenztes Wachstum ist biologisch nicht möglich. Das Leben ist nach Vielfalt, Fülle und miteinander verbunden sein ausgerichtet. Nichts lässt sich nach Belieben ausdehnen und beschleunigen, jeder muss in seinem Rhythmus aus Aktivität und Ruhe schwingen. Durch das immer größer, weiter, höher und schneller sind wir in den „roten Bereich“ geraten. Der Boden unter unseren Füßen geht verloren. Wir schwirren, flattern und wirbeln rast- und orientierungslos durch die Welt. Wie ein „Hans Guck-in-die-Luft“, „Zappelphilipp“ oder „fliegender Robert“.

Diese Lebensweise bestimmt in noch viel stärkerem Ausmaß den politischen Alltag. Täglich, oft sogar stündlich wechselnde Schlagzeilen - Rücktritt, ja, nein, etappenweise - Dieselverbot ja, nein, vielleicht - Energiewende jetzt, später, schrittweise - Aktienkurse auf und ab - Pressekonferenzen ohne Aussage - Wahlkämpfe oberflächlich, platt, laut, grell - Staatsschulden, begrenzen oder nicht - Talkshow über Talkshow, keiner hört zu, jeder fällt jedem ins Wort - Renten sicher, unsicher, Kürzungen ja, nein - Personaldiskussion über Personaldiskussion - Sozialabgaben steigen, sinken - Konsumklima gut, schlecht, gut, schlecht - Bekämpfung der Armut, ja, nein, vielleicht ein bisschen - soziale Gerechtigkeit, wenigstens etwas - Klimaziele erreichen oder nicht, früher oder später …

Eine einzig große Unaufmerksamkeit. Ständig neue Informationen. Keine klare Linie, kein Abwägen, keine sorgfältig erarbeiteten Konzepte und schon gar keine konsequenten, nachhaltigen Ausführungen. Eine einzig große Hyperaktivität. Unruhe, Lärm, Aktivitäten ohne Inhalt und Ziel. Hektik, Rastlosigkeit und nicht mehr abschalten können. Eine einzig große Impulsivität. Voreilig, vorschnell, unbedacht. Kopflos, sprunghaft, überstürzt. Sofortiges Ergebnis, kein Warten können, kein Nachdenken über langfristige Folgen.

In dieser Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-(ADHS)-Welt sind Politikerinnen und Politiker Teilchen eines unaufmerksam-hyperaktiv-impulsiven Systems geworden. Es bleibt ihnen aber auch gar nichts anderes übrig. Wachstum, Gewinn und Rendite, grenzenlos, um jeden Preis, so schnell wie möglich. Quartalsabschlüsse, Gewinnerwartungen, Aktienkurse „über alles“. Wie sollen in einer solchen Welt Antworten auf die Probleme des Alltags gefunden und die großen gesellschaftlichen Aufgaben gelöst werden? Und vor allem, wie kann so unser Planet Erde gerettet und Frieden geschaffen werden? Sollten Politikerinnen und Politiker nicht zukunftsfähige Konzepte entwerfen sowie langfristig ausgewogene Entscheidungen treffen und umsetzen? Müssten sie nicht achtsam für alle Bürgerinnen und Bürger und ihre Wünsche, Hoffnungen, Sorgen und Ängste sein?

Warum sind sie es aber mehrheitlich nicht? Sie haben doch Amtseid, Gewissen und Verantwortung, die ihr Verhalten bestimmen könnten, ja müssten. Stimmt nicht nur mit ihrer Welt, sondern auch mit ihnen selbst etwas nicht? Gibt es ein zweites großes Problem?

Süchtig nach Macht

Ja, und dieses heißt Sucht. Viele Politikerinnen und Politiker leiden an einer Abhängigkeit. Nicht von einer Substanz, die in Blut, Urin oder Haaren nachweisbar wäre. Sie kann aber wie Kokain, Crystal oder Heroin einen Menschen vollkommen verändern. Diese besondere Droge heißt Macht.

In ihrer Partei drängen sie nach vorne, um immer mehr Ansehen und Geltung zu gewinnen. Haben sie sich empor gearbeitet, Stimmkreis und Mandat, einen wichtigen Parteiposten oder gar ein Regierungsamt erlangt, kann spätestens jetzt der Machtbesitz Wahrnehmung, Gefühlsleben, Denken und Verhalten vollständig verändern. Sie glauben, unverzichtbar zu sein und werden misstrauisch und arrogant. „Am eigenen Leibe“ erleben sie Unbehagen, Anspannung und Gereiztheit, später Wut, Zorn und Entsetzen, wenn sie übergangen wurden oder ihnen von der Parteiführung der Verlust eines Postens, Wahlkreises oder Mandats angedroht wurde. Bald benötigen sie immer mehr von ihrem „Stoff“. Sie können mit Alltäglichem nicht mehr zufrieden sein und nicht ertragen, andere besser oder mächtiger als sie selbst zu sehen. Ihr Machthunger kennt nun keine Grenzen mehr. Sie vergessen alles, um ihre Macht zu erhalten, sich durchzusetzen und noch einflussreicher zu werden. In ihrem Leben schwinden die Bezüge zu anderen Menschen, zu Familie, Freunden, Körper und Natur. Ihre Wahrnehmung engt sich ein, das Gefühlsleben stumpft ab, ihr Denken dreht sich nur noch um ein Thema, Macht. Sie vernachlässigen ihre Gesundheit und vereinzeln immer stärker. Ihre Droge hat sie vollständig in Besitz genommen.

Diese Politikerinnen und Politiker sind aber keine Sucht kranken Junkies. Sie sind nicht von Drogenkonsum gekennzeichnet, tragen keine heruntergekommene Kleidung, haben kein Untergewicht und drohen nicht zu verwahrlosen. Sie müssen nicht ständig auf der Suche nach ihrem Rauschmittel sein, denn sie nehmen sich ihren „Stoff“ in unbegrenzter Menge ganz einfach von uns Bürgerinnen und Bürgern. Ohne Macht können sie nicht mehr leben. Sie bekämpfen sich gegenseitig in Partei und Fraktion mit Hinterlist, Intrigen und Lügen und überbieten sich, Gegnerinnen und Gegner fertig zu machen und kalt zu stellen. Ihre Machtkämpfe sind primitiv, aggressiv und brutal.

Diese Machtsucht ist die Vorderseite einer Medaille. Sie hat auch eine Rückseite.

Voller Angst 

Mehr als immer aufs Neue befriedigt, so müssten diese Politikerinnen und Politiker sein. Sie könnten ihre Macht geniessen und auskosten. Doch dies ist nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Sie sind voller Angst. Immer häufiger und stärker spüren sie ihr Herz klopfen und ihren Pulsschlag beschleunigen; sie haben Schwindelzustände und Schweißausbrüche; sie zittern und bekommen Beklemmungsgefühle; sie fühlen eine Kälte und ein grauen-qualvolles Nichts; sie erleben Dinge als unwirklich und sich selbst als „nicht richtig“ anwesend; sie werden „benommen“ und verlieren die Kontrolle über ihre eigenen Gedanken. Nicht nur die Gier nach Macht hat sie in Besitz genommen, sondern noch viel mehr eine abgrundtiefe Angst, eines Tages keine Macht mehr zu besitzen. Diese beiden Pole beherrschen ihren Alltag und stören ihren Nachtschlaf, die Gier nach Macht und die Angst vor Machtverlust, Bedeutungslosigkeit sowie unendlicher innerer Leere. Gier und Angst sind eiskalt und unerbittlich. Gier lässt das Blut in den Adern gefrieren, große Gier kann das Herz eines Menschen zerstören. Angst nimmt einem jede Freude, zwischenmenschliches Mitschwingen und Hoffnung. Sie ist Beklemmung und Qual. Starke Angst kann das Innerste eines Menschen vernichten.

ADHS-Welt, süchtig nach Macht und voller Angst. Dies ist noch nicht alles. Erst seit wenigen Jahrzehnten können wir unsere Energie, Freiheit und Menschlichkeit an eine völlig andersartige, künstliche Welt verlieren.

Spielsucht

Computer- und Videospiele können Spaß machen und unterhaltsamer Zeitvertreib, Spannung und „Aktion“ sein. Sie können aber auch Einsamkeit, Enttäuschungen, Ängste, schlechte Erinnerungen oder Schuldgefühle vermindern helfen. Dann wird das Computer- und Videospielen gefährlich. Besonders, wenn es im echten Leben keine Beziehungen, Freundschaften und Liebe gibt und in der virtuellen Welt eine aufregende Geschichte „läuft“, in der man eine große Rolle einnimmt und von den Mitspielerinnen und Mitspielern geschätzt wird. Das Computer- und Videospielen kann so zum einzigen Lebensinhalt werden und Wahrnehmen, Denken, Gefühle sowie Verhalten völlig bestimmen. Gesundheit, Arbeit und - falls vorhanden - Freundeskreis und Familie  werden vernachlässigt. Das Spielen kann das Belohnungssystem des Gehirns betrügen und einem Menschen sämtliche Freiheitsgrade nehmen. Der Spieler wird ein Gefangener seiner virtuellen Welt.

Viele Politikerinnen und Politiker leben nicht nur in einer ADHS-Welt. Sie sind nicht nur süchtig nach Macht und voller Angst, diese wieder zu verlieren. Sie sind darüber hinaus abgehoben von der Wirklichkeit und gefangen in einer boden- und wurzellosen eigenen Welt. In dieser gibt es keine Herzen, keine Seele, keine Kinder und keine armen oder kranken Menschen. Viele Politikerinnen und Politiker leben in einer Welt ohne Gefühle, ohne Betroffenheit und ohne soziale Bezüge. In dieser Welt aus Zahlen, Umfragewerten, Prognosen und Statistiken, Profit, Gewinnen, Rendite- und Wachstumsraten gibt es keine Freiheit und schon gar keine Liebe. Es ist ein Scheinleben, in dem sie sich verirrt und verloren haben. Wie in einem großen Computerspiel. In einer künstlichen Welt, in der wir Bürgerinnen und Bürger die Spielfiguren sind, die über Tastatur oder Joystick hin und hergeschoben werden und deren Geld und Arbeitskraft den Spieleinsatz darstellen.

Auch dies ist immer noch nicht alles. Es gibt ein letztes großes Problem. 

Störung des Sozialverhaltens

Frieden, Würde, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Diese Ideale haben die Vereinten Nationen für das Zusammenleben in einer Gesellschaft verkündet. In diesem Geiste sollen unsere Kinder aufwachsen, von ihren Eltern vorbildlich erzogen und von Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrerinnen und Lehrern umfassend gebildet werden. Dies ist aber bei weitem nicht der Fall. Ganz im Gegenteil steigt die Rate der Kinder und Jugendlichen mit einem stark oppositionellen, aggressiven, dissozialen oder delinquenten Verhalten. Dazu zählen starke Trotz- und Wutanfällen; Streiten, Schlagen, Mobbing und Tyrannisieren von Mitmenschen; Quälen von Tieren; Lügen, Betrügen, Stehlen und Zerstören von Eigentum; schwere Regelverstöße; Schulschwänzen und Weglaufen von Zuhause.

Bis zu zehn Prozent unserer Kinder und Jugendlichen weisen ein solches unsoziales Verhalten in mehr oder weniger ausgeprägter und durchgehender Weise auf. Und das politische Establishment? Was macht dieses fast ausnahmslos mit uns Bürgerinnen und Bürgern, mit unserer Umwelt und Natur? Es setzt seine Macht über seine Abgeordneten - wie beim Fraktionszwang - mit größtem Druck durch; es produziert und verkauft Waffen, mit denen die schrecklichsten Aggressionen angedroht und durchgeführt werden; es belügt seine Wählerinnen und Wähler mit nicht eingehaltenen Versprechungen und verdeckter Parteienfinanzierung; es betrügt uns mit Ressourcenverschwendung, Niedriglohnsektor, Steuerschlupflöchern, Rentensystem und Altersarmut; es stiehlt einem großen Teil von uns Bürgerinnen und Bürgern ihren Anteil am Volksvermögen mit einer Gewinnverschiebung hauptsächlich zu den Reichen; es zerstört mit Schadstoffbelastung, Vermüllung sowie „Flächenfraß“ unsere Nahrung, Gesundheit und Umwelt; es quält Tiere in Massentierhaltung; es missachtet und verletzt unsere „Grundregeln“, das Grundgesetz wie die Menschenrechtserklärungen der Vereinten Nationen; es weigert sich - wie bei der „Dieselkrise“ -  seine Hausaufgaben zu erledigen und läuft vor Problemlösungen - wie bei der Erderwärmung - davon.

Das politische Establishment ist mehrheitlich kein Vorbild. Es hat eine ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens.

Dies ist die Sicht eines Kinderpsychiaters auf das politische Establishment. Warum lassen wir uns von diesem unseren Alltag und unser Leben bestimmen? Wir spüren doch deutlich, dass die Ungerechtigkeiten in unserem Land statt kleiner immer größer werden? Wir wissen doch, dass diese Politik unsere Gesundheit und Natur zerstört und nicht zum Frieden führt? Liegt dies etwa daran, dass wir selbst „Schwachstellen“ haben? Diese Frage ist aber einen eigenen Beitrag wert. 

Professor Dr. Gunther Moll

Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen

www.gunther-moll.de
www.facebook.com/Professor.Gunther.Moll

Bücher zum Thema:

Gunther Moll & Benjamin Moll: DieKinderwagenRevolution. Papeto Verlag 2012
Gunther Moll & Benjamin Moll: HIN UND HER GERÜCKT (Der erste Teil). Papeto Verlag 2017

zuerst veröffentlicht in Neue Debatte: https://neue-debatte.com/2019/04/17/die-sicht-eines-kinderpsychiaters-auf-das-politische-establishment/

Fake News hoch 2: Der Erziehermangel in Deutschland

Fake-News und Fälschung

Wir leben im Zeitalter der Fake-News, raffiniert aufgemachter und schnell und weit verbreiteter manipulierter Falschmeldungen. Es gibt aber noch eine Steigerung: Meldungen, deren Informationsgehalt wahr ist und Bereiche betrifft, in denen niemand auf die Idee einer absichtlichen Fälschung kommt. Denn es stimmen nicht nur die Fakten, sondern auch die offenkundigen Bewertungen. So kann ein Mangelzustand, zum Beispiel die Armut eines Teils der Bevölkerung, klar mit Zahlen untermauert sein, als bedauerlich bewertet, Abhilfe angemahnt und hierzu immer wieder kleinere Maßnahmen zur „Bekämpfung“ derselben beschlossen werden. Und dies ist die Fälschung. Die Falschmeldung betrifft nicht Fakten und Bewertungen. Die Fälschung ist der erzeugte Eindruck, dass ein Missstand oder Mangel beseitigt werden soll. Denn genau das Gegenteil ist der Fall. Der Missstand oder Mangel wird von Staat und Regierungen nicht nur hingenommen, sondern gewünscht und aufrechterhalten. Wir Bürger*innen sollen mit diesen Meldungen aber beruhigt, oder noch besser, ruhig gestellt werden. Solche Meldungen sind keine einfachen Fake-News, sondern Fake-News hoch 2, also bewusste und gewollte Verdummungen.

Der Erziehermangel

Eine immer wieder in den Medien verbreitete Fake-News hoch 2 betrifft den Erziehermangel in Kinderkrippen und -gärten. Erst vor kurzem - es tagte der Deutsche Kita-Leitungskongress - waren die Nachrichten und Zeitungen voll davon. Die Überschriften (wie in den Nürnberger Nachrichten) lauteten: „Mangelverwaltung in Kitas“, „Erziehermangel: Der Notfall ist schon da“, „Kindertagesstätten in Deutschland schlagen Alarm“ oder „Ausnahmesituation ist bittere Normalität“.

Mangel und Notfall, personelle Unterbesetzung und steigende Einschränkungen bei Betreuungsangeboten und Öffnungszeiten! Und das nicht in einem Kriegsgebiet oder armen Entwicklungsland, sondern in einem der führenden Wirtschaftsnationen der Welt. Was für Meldungen! Und sie wurden mit Zahlen unterlegt: 90 Prozent der Kita-Leitungen müssen mit zu wenig Personal arbeiten, 95 Prozent konnten die empfohlenen Mindeststandards beim Betreuungsschlüssel - diese sind eine Fachkraft für je drei unter Dreijährige und 7.5 Fachkräfte für über Dreijährige - nicht einhalten. Nicht einmal die Mindeststandards in einem Land voller Wohlstand! Noch dazu wo es - dies wird von allen Seiten immer wieder betont - um das wichtigste Gut geht, um unsere Kinder, die nächste Generation und die Zukunft. Also muss, so schließen die Meldung wie Kommentare, dieser Missstand schnellstmöglich mit umfangreichen Maßnahmen und Gesetzen beseitigt werden.

Das Gute-Kita-Gesetz 

Schon der Name des neuesten Gesetzes ist ein Fake! Denn dieser soll den Eindruck vermitteln, dass jetzt überall gute Kinderkrippen und -gärten entstehen und alle Mangelzustände aufgehoben werden. Dafür wird die stolze Summe von 5.5 Milliarden Euro bis zum Jahre 2022 zur Verfügung gestellt. Nach allen Experteneinschätzungen wird dieses Gute-Kita-Gesetz aber keine Verbesserung der Qualität erbringen. Keine Erzieher*in wird dadurch - so urteilen die Fachleute - auch nur ein Kleinkind weniger betreuen. Neben dem Namen soll auch die Milliardensumme vortäuschen, dass die Qualität der institutionellen Kinderbetreuung dem Staat wichtig ist. Aber ein Vergleich: Für das Rettungspaket der Banken - hier schlugen im Jahr 2008 nicht Kindertagesstätten, sondern Großbanken „Alarm“ - wurde (irrwitziger Weise zu Lasten der sozialen Aufgaben des Staates) fast die 100-fache Summe eingebracht. Und wenn der „freie“ Markt des neoliberalen Finanz- und Wirtschaftssystems nach Angebot und Nachfrage alle Probleme lösen und faire Marktpreise schaffen würde, müsste „der Markt“ auf einen Erziehermangel mit einer Lohnerhöhung von 10 bis 20 Prozent reagieren. Dies ist aber natürlich nicht der Fall.

Ein mehrfacher Gewinn

Die Fake-News hoch 2 besteht darin, dass der Personalmangel beabsichtigt ist. Denn die Folgen sind ein vielfacher Gewinn für den aktuell dem Neoliberalismus verpflichteten Staat und das neoliberale Finanz- und Wirtschaftssystem.

Zum ersten können unter diesen Bedingungen die von Staat und Wirtschaft gewünschten Eigenschaften der Kinder (und zukünftigen Erwachsenen) - fast wie am Fließband - geschaffen und fixiert werden. Zugleich ist die Entwicklung eines jeden Kindes zu einer vollen und harmonischen Persönlichkeit - dies muss der Staat gemäß der völkerrechtlich verbindlichen Erklärung über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) in jeweils größtmöglichem Umfang gewährleisten - nicht mehr möglich. Und darum geht es. Ein Aufwachsen von Kindern in fürsorglichen und verantwortungsbewussten Familien, kleinen Gruppen und Schulklassen (oder größeren Klassen mit zwei Fachkräften) führt nämlich - dies ist die größte Gefahr für die Klasse der Mächtigen - zu selbstbewussten, selbst denkenden, freien Bürger*innen, die ihr Leben selbst bestimmen, nicht auf Populisten oder Werbung hereinfallen und sich nicht ausschließlich als Arbeitskräfte und Konsumenten ausnutzen lassen. Deshalb werden zum Wohl des Staates und der Wirtschaft so viele Kinder wie möglich schon im Kinderkrippen- und Kindergartenalter - am besten noch über den ganzen Tag - in feste Zeitpläne und Strukturen eingepresst. Dabei geht es um Unterordnung in Gruppen, Befolgen von Anweisungen und Regeln und Erbringen gewünschter Leistungen. Dadurch entstehen gehorsame, normierte und auf vorgegebene Leistung ausgerichtete Kinder, die ideale Vorbereitung für die Schulzeit und anschließend das jahrzehntelange Arbeitsleben.

Zum zweiten kann der Staat mit diesem personellen Mangelzustand große Finanzmitteln für andere Bereiche einsetzen (zum Beispiel wie geplant zur Erhöhung der Militärausgaben), die für wirklich gute Kinderkrippen und -gärten nötig wären und gleichzeitig zum dritten für den fünftgrößten Wirtschaftsbereich in unserem Land, der Gesundheitsbranche, fast unbegrenzte Gewinn- und Wachstumsmöglichkeiten schaffen. Denn ein Personalmangel führt zu stärkeren Belastungen der zu über 95 Prozent weiblichen Mitarbeiter in den Kindertagesstätten und in der Folge zu höheren Krankenständen, also zur Produktion der Ware Patientin. Dieser Zuwachs wird nochmals deutlich erhöht durch die immer stärker beanspruchten Eltern (mit einem Anstieg der psychischen Störungen und der Frühberentungen aus psychischen Gründen vor allem bei Frauen) sowie der immer häufiger in ihrem körperlichen Zustand, Gefühlsleben und Verhalten auffälligen und pädiatrisch wie kinderpsychiatrisch behandlungsbedürftigen Kinder.

Zum vierten wird so - auch mit dem wiederum noch mehr Qualität kostenden „Bedarfsgerechten und Flächendeckenden“ Ausbau der Kindertagesstätten - (fast) keine Arbeitskraft mehr verloren gehen. Ganz besonders keine motivierten und qualifizierten Frauen, die sich erlauben ein Kind oder sogar Kinder zu bekommen. Denn gerade Mütter sind fleißige und verlässliche Arbeitskräfte, die alles geben, auch wenn sie durch Beruf, Partnerschaft, Kind und Haushalt überfordert sind; die von morgens bis in die Nacht arbeiten, ohne Grenzen, feste Dienstzeiten und verlässlichen Feierabend; die sich verausgaben trotz mangelnder oder gar fehlender Anerkennung der Arbeitswelt; die dabei - immer in Konkurrenz zu Männern  - keine Schwäche zeigen; die für alles selbst verantwortlich sein müssen, für ihr persönliches Glück, ihre Beziehung, ihre sexuelle Befriedigung, die Erziehung und den Schulerfolg ihres Kindes oder ihrer Kinder, die Perfektion ihrer Wohnung, die Führung des Haushaltes und vielleicht zusätzlich noch die Versorgung und Pflege ihrer eigenen Eltern.

Das Zeitfenster

Die jetzige Generation der Klein- und Kindergartenkinder wird - auch infolge des „Erziehermangels“ in den Kindertagesstätten (und weiter in ihrem Schulalter durch einen entsprechenden Lehrer*innen-Mangel mit großen Klassen - Achtung wieder eine Fake-News hoch 2!) - zum größten Teil im „Eigentum“ von Staat und Wirtschaft sein, sich an Vorgaben und Leistungsanforderungen brav halten und seine eigenen Kinder und Enkelkinder ohne Zögern, Bedauern oder gar Widerstand in staatlichen Institutionen von Geburt an aufziehen lassen. Sie werden auch nichts anderes mehr kennen. 

Die heutige Generation der Schüler*innen hatte hingegen noch einen zu großen Einfluss ihrer Elternhäuser, zu viel freie Spielzeit mit Gleichaltrigen, zu viele Vereinsaktivitäten und viel zu viele Möglichkeiten, selbstständig und selbstbewusst zu werden. Deshalb wehren sie sich noch gegen Missstände und Ungerechtigkeiten, wie gerade auch in unserem Land die „Fridays for Future“-Bewegung gegen Umweltzerstörung und Erderwärmung.

Dass dieser Kampf erfolgreich sein könnte, ist die letzte große Angst des politischen Establishments, der neoliberalen Geld-Finanzwirtschaft und der reichsten Menschen auf unserem Planeten. Und zugleich eine unserer letzten Hoffnungen. 

zuerst veröffentlicht in Neue Debatte: https://neue-debatte.com/2019/04/08/fake-news-hoch-2-der-erziehermangel-in-deutschland/

Die „chemische“ Reaktion: Fridays for Future und Gemeinwohl-Ökonomie

Fridays for Future

Fast drei Jahrzehnte lang war es undenkbar, dass eines Tages die innerdeutsche Mauer fallen könnte. Doch plötzlich kam Bewegung in die Politik, die Mauer wurde geöffnet und wenig später sogar ganz abgerissen.

Vor sieben Jahren veröffentlichte ich gemeinsam mit meinem Sohn Benjamin die fiktive Geschichte einer „Kinderwagen-Revolution“, in der Kinder, Eltern und Großeltern mit Aktionen und Protesten auf die Straße gingen. Diese „Kinderwagen-Bewegung“ wuchs in nur wenigen Monaten so stark an, dass sich die Regierenden gezwungen sahen, die Kinderrechte in unserem Land zu gewährleisten.

Bis vor kurzem dachte (und befürchtete) ich, dass eine solche „Märchengeschichte“, wenn überhaupt, frühestens in zwei bis drei Jahrzehnten Wirklichkeit werden könnte. Doch plötzlich entstand vor wenigen Monaten eine Bewegung, die niemand vorhersehen konnte. Sie heißt nicht „Kinderwagen-Revolution“, sondern Fridays for Future; ihr Thema ist nicht die Gewährleistung der in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte, sondern der Schutz unseres Klimas, die Umsetzung der international vereinbarten Klimaziele und damit der Erhalt der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten.

Ihr Erfolgt steht aber noch weit „in den Sternen“. In der Kinderwagen-Revolution war der Gegner auch „nur“ das politische Establishment der Bundeshauptstadt. Deren Spitzenpolitiker „knickten“ unter dem sich im ganzen Land ausgebreiteten Druck der Straße ein, weil sie um ihre Wiederwahl und ihren Machtverlust bangten und deshalb lieber den „bitteren Apfel“ Kinderrechte schluckten, als abgewählt zu werden.

Im Gegensatz zu dieser „Kinderwagen-Geschichte“ sind die Gegner der Fridays for Future Bewegung aber um Gebirgsketten-Höhe mächtiger. Es sind die wenigen superreichen Menschen, die weltweit stärksten Konzerne und Banken sowie die jeden Tag mit Billionen spekulierende Geld-Finanzwirtschaft. Diese haben nicht nur die Lobby-Politiker*innen in ihren Händen, sondern ebenfalls den größten Teil der Medien und damit beinahe die gesamte öffentliche Meinung. Deshalb kann die Fridays for Future Bewegung, früher oder später, zum Scheitern verurteilt sein. Denn die Erwärmung unseres Planeten verspricht den Nutznießern des neoliberalen Finanz- und Wirtschaftssystems unglaublich hohe Gewinne, von der Ausbeutung jetzt noch unter Eis verborgener Bodenschätze, der Reparatur der „Umweltschäden“ - die natürlich wir Bürger*innen zu bezahlen haben - bis zur Verlagerung ganzer Millionenstädte, die durch den steigenden Meeresspiegel sonst nicht mehr bewohnbar wären.

Chemieunterricht

Bei der Sorge vor einem Scheitern fiel mir plötzlich wieder der Chemieunterricht meiner Schulzeit ein. Ein jedes Mal war ich beeindruckt wie begeistert, wenn mein Lehrer aus einer Substanz durch die Zugabe einer zweiten - beide für sich ganz harmlos und ungefährlich - ein Produkt mit völlig neuen Eigenschaften, oft sogar mit Explosion, lautem Knall und leuchtendem „Feuerblitz“, hervorzauberte.

Was für eine Energie konnte bei solchen chemischen Reaktionen entstehen! Bei dieser Rückerinnerung kam mir wenig später folgender Gedanke in den Sinn: Wie wäre es, die „erste Substanz“ - die Fridays for Future Bewegung - mit einer „zweite Substanz“ zusammen zu bringen, um daraus eine ausreichend hohe Energie und Wirkstärke zu erzielen und erfolgreich zu sein?

Da es in unserer heutigen Welt um die Gewinn-Maximierung für die Besitzer der großen Unternehmen, Banken, Konzerne und Finanzderivate geht, sollte die „zweite Substanz“ eine Antwort auf das ungerechte und zerstörerische neoliberale Finanz- und Wirtschaftssystem bieten, deren Motto nicht „maximaler Gewinn für nur Wenige“, sondern „Wirtschaften zum Wohle aller“ ist. Und diese „zweite Substanz“ gibt es! Es ist eine erst vor wenigen Jahren entstandene und von Monat zu Monat stärker werdende Graswurzel-Bewegung, bei der sich ein jeder „von zuhause aus“ beteiligen kann und deren Ziel ein gutes Leben für uns alle ist.

Gemeinwohl-Ökonomie

Diese Bewegung heißt Gemeinwohl-Ökonomie. Sie ist ein ethisches Wirtschaftsmodell, welches die Umsetzung der Werte Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz in einer Kommune oder einem Unternehmen in einer eigenen, zusätzlich zur Finanzbilanz geführten Gemeinwohl-Bilanz dokumentiert.

Dies bedeutet in Politik und Wirtschaft Kooperation statt Konkurrenz, Nachhaltigkeit statt kurzfristigem Gewinn und Gemeinwohl statt Profit um jeden Preis. Denn bei allen politischen wie wirtschaftlichen Entscheidungen geht es in erster Linie darum: Nützt es den Menschen, nützt es der Natur und dient es dem Frieden. Damit wären Ressourcenverschwendung, Umweltverschmutzung und Vermüllung, Monokulturen und Artensterben, Massentierhaltung und Konsumrausch, Profit und Wachstum um jeden Preis - und das mit steigender sozialer Ungleichheit von unvorstellbarem Reichtum weniger und Armut vieler - nicht mehr möglich. Ebenso nicht mehr Regierungen und Parlamente mit ihren Parteispitzen und Lobby-Politiker*innen, denen es vor allem anderen um Posten, Macht und das Wohl der deregulierten Geld-Finanzmärkte geht.

Die „chemische“ Reaktion - ein Appell an uns Erwachsene

Wir müssen - für die gute Zukunft unseres Planeten wie für ein gutes Leben für uns alle - Einsatz und Kraft der Fridays for Future Bewegung unserer Schüler*innen mit einer Gemeinwohl-Ausrichtung unserer Politik wie unseres Finanz- und Wirtschaftssystems zusammenbringen. Das heißt, zur „ersten Substanz“, dem Klimaschutz, den unsere Schüler*innen von Monat zu Monat immer lautstärker einfordern, wird von uns Erwachsenen als „zweite Substanz“ auf allen Ebenen die Gemeinwohl-Ökonomie als neues Wirtschaftsmodell eingeführt.

Dazu fordern wir - wenn es die Politiker*innen aus ihrer Verantwortung und ihrem Eid auf unser Grundgesetz heraus nicht schnellstens selbst umsetzen - als Bürger*innen und Wähler*innen mit allem Nachdruck die Einführung von Gemeinwohl-Kommunen, stellen als Geschäft, Unternehmer*in oder Bank eine Gemeinwohl-Bilanzierung auf und richten unsere tägliche Lebensführung - neben einem sozialen Miteinander - auf ökologische Nachhaltigkeit aus. Dies bedeutet Änderungen im Kaufverhalten (nachhaltige Produkte und Dienstleistungen, und nur so viel, wie tatsächlich gebraucht werden), in der Ernährung (weitestgehend pflanzliche, biologische, regionale und saisonale bzw. selbst angebaute Lebensmittel), in der Energie (Nutzung von Strom und Heizenergie aus erneuerbaren Quellen), in der Mobilität (Wahl umweltfreundlicher Verkehrsmittel) wie im Engagement für unsere Umwelt (andere Menschen ebenfalls zu ökologisch nachhaltigem Verhalten bewegen).

Dieses Reaktionsgemisch wird eine so große Energie entfachen, dass wir das Klima auf unserem Planeten gerade noch schützen, als auch unsere Menschlichkeit und Gesundheit erhalten können.

Wir Erwachsene dürfen unsere Schüler*innen, die jeden Freitag auf die Straße gehen, nicht alleine lassen. Wir müssen, auch „von zuhause aus“, selbst aktiv werden. Denn nur gemeinsam - dies ist meine Überzeugung - können wir die für die Zukunft entscheidende „chemische“ Reaktion mit Explosion, lautem Knall und leuchtendem „Feuerblitz“ hervorzaubern:

Fridays for Future + Gemeinwohl-Ökonomie = Klimaschutz und ein gutes Leben für uns alle.

Ich bin dabei.

Gunther Moll

Zuerst veröffentlicht in Neue Debatte (https://neue-debatte.com/2019/02/27/die-chemische-reaktion-fridays-for-future-und-gemeinwohl-oekonomie)

„Fridays for Future“

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

bitte erlauben Sie mir, mich nach Ihrer Aussage auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu „In Deutschland protestieren jetzt die Kinder für Klimaschutz“ und „Aber dass plötzlich alle deutschen Kinder – nach Jahren ohne sozusagen jeden äußeren Einfluss – auf die Idee kommen, dass man diesen Protest machen muss, das kann man sich auch nicht vorstellen. Also Kampagnen können heute übers Internet viel einfacher gemacht werden“ in einem offenen Brief an Sie zu wenden.

Als ich zum ersten Mal von der „Fridays for Future“ Bewegung hörte, kamen mir spontan ein Gedanke und eine Frage in den Sinn.

Der Gedanke: Klasse, jetzt könnte es losgehen. Damit meine ich die Verwirklichung der fiktiven Geschichte einer sogenannten Kinderwagen-Revolution, in der es Kinder, Eltern und Großeltern gelingt, die Regierenden in unserem Land endlich zur Gewährleistung der in der UN-Kinderrechtskonvention verbriefen Rechte zu bewegen. Diese fiktive Geschichte hatte ich gemeinsam mit meinem Sohn Benjamin 2012 im Buch „DieKinderwagenRevolution“, und nochmals in einer gekürzten, überarbeiteten Fassung 2016 im Buch „Der Umbruch: Wie Kinder, Eltern und Großeltern unser Land veränderten“ erzählt. 

Die Frage: Hätte ich zu meiner Schulzeit bei den Freitagsdemonstrationen mitgemacht? Meine Antwort lautet „Nein“. Nicht, weil mir dazu der Mut gefehlt hätte, sondern weil ich damals noch glaubte, dass Politiker*innen nur das Beste für uns Bürger*innen erreichen wollen. So bin ich in den 60er und 70er Jahren aufgewachsen, so hatte ich es überall gelesen und gehört. Heute ist meine Meinung, die ich vor kurzem im Artikel „Der große Betrug“ auf den Punkt brachte (https://www.pressenza.com/de/2018/11/der-grosse-betrug-und-was-wir-tun-muessen), eine ganz andere.

In meinem Beruf als Kinderpsychiater kann ich seit über drei Jahrzehnten fast täglich mit Kindern über ihre Wünsche, Hoffnungen, Sorgen und Ängste sowie ihre jeweils ganz besondere Sicht der Welt sprechen. Deshalb darf ich Ihnen, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, folgendes mitteilen:

Erstens: Die Kinder in unserem Land haben, auch durch die Erziehung ihrer Eltern und Großeltern, durch den Unterricht ihrer Lehrer*innen und die heute im Internet für jeden verfügbaren unabhängigen Informationsquellen - und wir haben in unserem Land zum Glück so viele tolle Eltern, Großeltern, Erzieher*innen, Lehrer*innen und Journalist*innen - einen Wissensstand, den ich zu meiner Schulzeit bei weitem noch nicht hatte.

Und zweitens: Die Kinder in unserem Land haben - aus demselben Grund - eine Haltung und Verantwortung für sich, ihre Mitmenschen und unsere Umwelt gewonnen, wie es die Vereinten Nationen in ihrer Menschenrechtserklärung vorgeben. Sie sind viel, viel weiter, als so viele von uns Erwachsenen. Sie können, das kann ich Ihnen durch meine berufliche Erfahrung versichern, selbstständig denken und sozial verantwortlich handeln. Und dies nicht nur im „Hier und Jetzt“, sondern - eine unserer großen menschlichen Fähigkeiten - gerade auch in die Zukunft hinein.

Eine Zukunft, die - wenn nicht schnellstmöglich die „Klimaziele“ umgesetzt werden - zu einer Klimakatastrophe führen wird. Denn auch Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, können - obwohl Sie eine der mächtigsten Personen auf unserer Erde sind - keinen „Planet B“ hervorzaubern.

Als Kinderpsychiater versuche ich alles, damit sich Kinder - so wie es die UN-Kinderrechtskonvention vorgibt - in größtmöglichem Ausmaß zu vollen und harmonischen Persönlichkeiten entwickeln und in einem Höchstmaß an Gesundheit leben können. Zur Persönlichkeitsentwicklung gehört es, sich aus einem inneren Antrieb heraus aufrichtig für „seine Sachen“ einzusetzen; zur Gesundheit gehört grundlegend eine gesunde Umwelt.

Damit die Klimakatastrophe noch abgewendet werden kann, müssen wir unser Klima und unseren Planet sofort schützen. Dafür treten die Kinder in unserem Land ein. Nur dafür.

Ich ziehe vor den Schüler*innen, deren „Fridays for Future“-Bewegung nicht eine durch einen „äußeren Einfluss“ gemachte Kampagne ist, sondern aus ihren Herzen und ihrer Verantwortung heraus herrührt, meinen Hut - und unterstütze ihren Protest zum Klimaschutz, soweit ich es nur kann.

Tun Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, dies bitte auch. Dies ist - jetzt aus meinem Herzen heraus - mein ganz großer Wunsch an Sie.

Hochachtungsvoll,

Ihr Gunther Moll

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Zuerst veröffentlicht in Pressenza (https://www.pressenza.com/de/2019/02/fridaysforfuture-offener-brief-an-bundeskanzlerin-angela-merkel

Geht bitte weiter auf die Straße!

Ein kurzer Brief in drei Teilen

Erster Teil:

Liebe Schülerinnen und Schüler,

im Grundgesetzt steht: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ (Artikel 20a). Ihr wisst, dass unser Staat dieser Verantwortung nicht nachkommt. In keiner Weise. Und ihr wisst, dass wir unsere Natur schützen und pflegen sowie Verschmutzung mit Schadstoffen, Vermüllung und Massentierhaltung beenden müssen. Ein großer Teil meiner Generation weiß dies auch, ist aber (aus Gewohnheit, Gleichgültigkeit, Ablenkung oder auch finanzieller Abhängigkeit bis Armut) nicht in der Lage, den notwendigen Wandel durchzuführen.

Dies könnt nur ihr! Und ihr habt alle Fakten und Argumente auf eurer Seite. Es geht um eure Lebensgrundlagen und eure Zukunft. Nur ihr könnt es schaffen, den großen Betrug von Lobby-Politik und deregulierter Geld-Finanz-Wirtschaft an uns allen zu beenden.

Gebt bitte nicht auf, geht bitte weiter auf die Straße, so viele wie nur möglich.

Ihr habt meine größte Wertschätzung und Bewunderung.

Aus meiner Generation ist das geworden, was der große Erich Kästner in seiner Rede an die Erstklässler schon 1961 geschrieben hatte: Aus Früchtchen soll Spalierobst werden. Der größte Teil meiner Generation ist angepasstes, normiertes und „untertäniges“ Spalierobst.

Bleibt ihr bitte - oder werdet es wieder - Früchtchen!

Euer Gunther Moll

Zweiter Teil:

Liebe Eltern und Großeltern,

es gibt viele Gründe, auf unsere Kinder und Enkelkinder stolz zu sein. Zum Beispiel auch auf gute Schulleistungen oder braves Verhalten.

Aber noch viel wichtiger ist es, dass unsere Kinder und Enkelkinder für sich und ihre Ziele eintreten und - wenn nötig - sogar dafür kämpfen. Und dafür ist es allerhöchste Zeit.

Bitte unterstützen Sie ihre Kinder und Enkelkinder! Sie kämpfen für uns alle. Und das muss uns einfach ganz besonders stolz machen.

Ich bin es,

Ihr Gunther Moll

Dritter Teil:

Verehrte Lehrerinnen und Lehrer,

als Schüler wurde mir oft gesagt, ich lerne „fürs Leben“. Und was haben wir aus unserem Leben und unserer Umwelt gemacht?

Umweltverschmutzung und Vermüllung - Flächenfraß und Bodenversiegelung - Monokulturen und Artensterben - Massentierhaltung und Genmanipulation - Datenüberwachung hin zum gläsernen Bürger - Massenwerbung und Konsumrausch - Profit und Gewinnmaximierung um jeden Preis - Leistungsdruck in Beruf, Familie und Privatleben - Zunahme chronischer Krankheiten wie psychischer Störungen - Vereinsamung im Alter - und noch vieles mehr …

Dies wollen unsere Schülerinnen und Schüler endlich ändern. Und dafür gehen sie jetzt jeden Freitag auf die Straße. Bitte fragen Sie sich, auf welcher Seite Sie stehen, ob Sie nicht schon „dressierte Staatsbürgerinnen und -bürger“ sind und welche Interessen Sie vertreten.

Ich hoffe sehr, die ihrer Schülerinnen und Schüler und deren Zukunft.

Unterstützen Sie ihre Schülerinnen und Schüler, und lassen Sie diese auf die Straße gehen. Sie sind keine Kinder und Jugendlichen mit oppositionellem, aggressivem, dissozialem oder delinquentem Verhalten. Sie sind keine Schulschwänzer, sie haben keine Störung des Sozialverhaltens. Ganz im Gegenteil, sie zeigen Gewissen, Verantwortung und Mut.

Die Störung des Sozialverhaltens hat unser politisches Establishment. Es setzt seine Macht über seine Abgeordneten mit größtem Druck durch; es belügt seine Wählerinnen und Wähler mit nicht eingehaltenen Versprechungen und verdeckter Parteienfinanzierung; es betrügt uns mit Ressourcenverschwendung, Niedriglohnsektor, Steuerschlupflöchern, Rentensystem und Altersarmut; es zerstört mit Schadstoffbelastung sowie Vermüllung unsere Nahrung, Gesundheit und Umwelt; es quält Tiere in Massentierhaltung; es weigert sich - wie bei der „Dieselkrise“ -  seine Hausaufgaben zu erledigen und läuft vor Problemlösungen - wie bei der Erderwärmung - davon.

Geben Sie nicht ihren Schülerinnen und Schülern Verweise. Sondern den richtigen Schuldigen. Dem politischen Establishment, den Lobby-Politikerinnen und -politikern und der deregulierten Finanzwirtschaft.

Es hat schon so oft die Falschen getroffen.

Bitte diesmal nicht.

Ihr Gunther Moll

Zuerst veröffentlicht in Neue Debatte (https://neue-debatte.com/2019/01/26/liebe-schuelerinnen-und-schueler-geht-bitte-weiter-auf-die-strasse/).

Die aktuelle Frage

Schadet viel Zucker? - Werden Kinder, die viel Zucker essen, wirklich zappelig?

Es ist völlig unerheblich, ob einige Kinder, die viel Zucker essen, dadurch zappeliger werden oder nicht. Mit ADHS hat dies übrigens gar nichts zu tun. Es geht vielmehr darum, dass Kinder so wenig wie möglich Zucker essen!

Natürliche Nahrungsmittel enthalten genügend Kohlenhydrate. Es ist in keinster Weise nötig, zusätzlich Zucker zuzufügen. Außer, man ist Aktionär einer der großen Nahrungsmittelkonzerne, die damit ein Milliardengeschäft machen - und zwar auf Kosten der Gesundheit unserer Kinder. Dies funktioniert über eine Werbemaschinerie und dadurch, dass wir von Süßem abhängig werden können. Dann kann nach einem „Zuckerexzess“ ein anschließend fallender Blutzuckerspiegel sehr wohl zu einem vermehrten „zappelig sein“ führen.

Ein Beispiel aus dem Tierreich: Ratten trinken natürlicherweise kein Zuckerwasser; deshalb muss man ihnen in einer langen Versuchsreihe immer konzentriertere Zuckerlösungen anbieten, um sie sozusagen hereinzulegen. Dann werden sie davon aber abhängig und reagieren sogar gierig und aggressiv, wenn sie ihren Suchtstoff nicht mehr bekommen.

Genau so wie mit Zuckerwaren verwöhnte Kinder, die an der Einkaufskasse einen Wutanfall hinlegen, wenn sie nicht noch einen süßen Riegel kriegen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die „künstliche“ Aufnahme von Zucker ist eine der größten Gesundheitsgefahren, denen wir Kinder aussetzen.

Und dies wird von der Lebensmittelindustrie so raffiniert gemacht, dass wir Eltern das oft gar nicht mehr bemerken - und auf Nahrungsmitteln auch nicht ablesen können.

Die schlimmste Auswirkung von übermäßigem Zuckerkonsum ist Übergewicht und Adipositas mit allen ihren körperlichen Folgen wie Diabetes und psychischen Auswirkungen wie Ausgrenzung und Mobbing. Mit anderen Worten: Kinder, die viel Zucker essen, werden krank - und dies lebenslang!

Natürlich können Kinder in Maßen Süßigkeiten essen, aber nur einmal am Tag, beispielsweise nach dem Abendessen mit anschließendem gründlichen Zähneputzen, auf keinen Fall jedoch zwischendurch oder in zuckerhaltigen Getränken - und ab und zu auch einmal richtig viel wie an Weihnachten, Ostern oder Geburtstagen - dann ist „zappelig sein“ aber ein Zeichen von Freude.

(veröffentlicht in „Nürnberger Nachrichten“, Magazin am Wochenende, 19./20.08.2017)

Die aktuelle Frage

Ist mein Kind depressiv? - Wie lässt sich erkennen, ob Kinder und Jugendliche an einer ernsthaften Depression erkrankt sind oder lediglich an einer traurigen Verstimmung leiden?

Jeder kennt im Alltag Zustände, in denen man traurig, bedrückt und niedergeschlagen ist. Bei deutlicher Ausprägung und über Wochen anhaltender Verstimmung mit zusätzlichem Verlust von Antrieb, Interessen und Hoffnung sowie Ein- und Durchschlafstörungen kann von einer depressiven Verstimmung oder Depression gesprochen werden.

Eine depressive Verstimmung wird oft nicht mitgeteilt, so dass auf „äußere“ Anzeichen zu achten ist: Typisch sind ein Nachlassen bis sogar Beenden gewohnter Aktivitäten, beispielsweise im Sportverein, ein Rückzug aus sozialen Bereichen, also ein „Verkriechen im Zimmer“, sowie - bei Schülern - ein Absinken der Schulleistungen.

Depressionen, die jeden fünften Menschen treffen, können über die gesamte Lebensspanne auftreten, auch schon im Kleinkindalter. Hier zeigen sich Ausdrucksarmut, Irritabilität, Stimmungslabilität, schlechtes Essen, Selbststimulation, Anklammern, Ängstlichkeit sowie körperliche Symptome, Schlafstörungen (oft mit Alpträumen) und eine verzögerte allgemeine Entwicklung.

Eltern, die sich Sorgen machen, sollten zuerst Problem immer ernst nehmen. Denn Eltern spüren, wenn etwas nicht stimmt. Sie sollten mit den Kindern liebe- und respektvoll umgehen. Hier zahlt sich aus, ob von klein auf eine sichere Bindung und Beziehung aufgebaut wurde, auf die jetzt die Kinder vertrauen können.

Außerdem ist es gut, wenn Eltern die Sorgen offen ansprechen, also beispielsweise: „Ich habe das Gefühl, Dir geht es nicht gut, Dich bedrückt etwas“. Sie sollten bei älteren Kinder auch durchaus die Frage stellen, ob sie Gedanken haben, dass das Leben keinen Sinn mehr hat oder sich vorstellen, das Leben zu beenden.

Zudem ist es gut, wenn Eltern daran denken, dass eine große Belastung oder gar Bedrohung von Mobbing bis Missbrauch bestehen könnte, über die ein Kind nicht so leicht sprechen kann. Wichtig sind Sätze wie: „Du kannst mir alles sagen, was Dir auf dem Herzen liegt, ich werden immer zu Dir stehen, ganz gleich, was es ist“.

Darüber hinaus sollten Eltern die Augen offen halten, ob schon Drogen im Spiel sind und die Handy- und Computerspielzeiten überhand genommen haben.

Eine Depression ist eine sehr ernsthafte Erkrankung, weil sie sehr viel Leiden hervorruft. Wenn sie übersehen und nicht behandelt wird, besteht das große Risiko, dass über das ganze Leben hinweg weitere depressive Episoden folgen. Hier liegt die höchste Gefahr aller psychischen Störungen für Suizidversuche und Suizide vor. Deshalb ist eine fachärztliche kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik erforderlich und - je nach Ausprägung - eine entsprechende Behandlung einzuleiten. Bei gleichzeitiger Depression von Mutter oder Vater muss auch dieses Elternteil unbedingt behandelt werden.

Dabei sind als Grundbehandlung wie auch Prophylaxe eine regelmäßige Lebensführung mit ausreichendem Schlaf, viel Tageslicht, täglicher körperlicher Aktivität und sozialen Kontakten das wichtigste.

(veröffentlicht in „Nürnberger Nachrichten“, Magazin am Wochenende, 17./18. Juni 2017)

Offener Brief an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Erlangen:

Die ganze Stadt ein botanischer Garten

Verehrte Damen und Herren,

bei der Planung der Stadt-Umland-Bahn verstand ich lange nicht, warum zwischen Arcaden und Hauptbahnhof eine so komplizierte Strecke mit zwei engen Kurven und Höhendifferenz gebaut werden soll. Die Aussage zur Frage, ob die Bäume in der Nürnberger Straße gefällt werden müssen - „falls ja, kann die StuB auch auf der anderen Seite der Arcaden herumfahren“ - und jetzt die Landesgartenschau zeigten mir aber, worum es gehen könnte: Der „Großparkplatz“ zwischen Autobahn und Hauptbahnhof soll für eine Großinvestition hergerichtet werden.

Die Anbindung für Autos und Schienenverkehr - mit neuer StuB-Haltestelle - wäre bis auf zwei Hinternisse ideal: Die Autobahn ist ein Störenfried und in ein Naturgebiet kann nicht einfach eingegriffen werden. Hier soll nun eine Landesgartenschau als „Trojanisches Pferd“ das an die Innenstadt angrenzende und dann mit einer Brücke zum Regnitzgrund als „Erholungsbereich“ verbundene Großareal so aufwerten, dass es der Stadt einen hohen Verkaufserlös einbringt.

Ich finde, wir sollten es anders machen. Die Gebiete, in denen es noch Natur gibt, haben wir Natur sein zu lassen. Auf dem Großparkplatz - auf dem eines Tages zusätzlich eine große Sport- und Veranstaltungshalle entstehen kann - bleiben Busbahnhof und Parkplätze direkt vor der Innenstadt erhalten. Und als Alternative gestalten wir die ganze Stadt zu einem botanischen Garten. Also, keine Regnitzgrund-Großparkplatz-Landesgartenschau, dafür ein über die ganze Stadt vernetzter Garten, wobei alle Plätze, Flächen, Weg- und Straßenränder nach dem Vorbild unseres botanischen Gartens bepflanzt werden. Damit würde nicht eine Politik für Großinvestoren und große Waren- und Konsumketten zur Bebauung des Großparkplatzes gemacht, sondern eine Politik für die Geschäfte der Innenstadt und - durch eine echt grüne Stadt mit bestem Innenstadtklima - die Lebensqualität ihrer BewohnerInnen.

Bitte tragen Sie sich in die Listen für das Bürgerbegehren gegen die Landesgartenschau im Landschaftsschutz- und Biotopgebiet Regnitzgrund und auf dem Großparkplatz ein - denn diese Frage müssen Sie, und nicht der Stadtrat entscheiden!

Ihr Gunther Moll

(veröffentlicht in „Erlanger Nachrichten“, 24.11.2016)

Offener Brief an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Erlangen:

Von der Stadt-Umland-Bahn (StUB) zur Städte-Verbindungs-Bahn

Verehrte Damen und Herren,

die Stadtratskoalition wird mit ihrer Mehrheit in Kürze die Gründung des StUB-Zweckverbandes Nürnberg-Erlangen-Herzogenaurach beschließen und Millionen Euro an Planungskosten in Auftrag geben, obwohl das Damoklesschwert eines Bürgerbegehrens über ihren Köpfen schwebt.

Ein Bürgerbegehren kann - wie schon im Landkreis - erfolgreich sein, denn gegen die geplante Trassenführung mitten durch unsere Stadt hindurch sprechen handfeste Gründe:

  • Eine innerstädtische Neuverlegung von Schienen ist technisch überholt, nicht mehr veränderbar und vom Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht zu vertreten.
  • Eine von den StUB-Befürwortern betonte umsteigefreie Schienenverbindung zwischen Nürnberg und Herzogenaurach muss nicht durch unsere Innenstadt führen.
  • Der von den StUB-Befürwortern vorgebrachte Punkt, nur mit der durch unsere Stadt führenden L-Trasse gebe es die nötigen Fördermittel (wobei sie selbst die Förderkriterien für falsch halten!) ist kurzfristig verlockend, im Hinblick auf die Jahrzehntelangen Millionenschweren (nicht geförderten) Unterhaltskosten aber nicht zu verantworten.
  • Eine L-Trassenführung ist zudem unnötig, da der (halbe) T-Ast nach Uttenreuth - aufgrund des Bürgerbegehrens des Landkreises - gestrichen werden musste.

Sinnvoll sind jedoch die Verlängerung der Nürnberger Straßenbahnlinie 4 bis zum Bahnhof Erlangen-Bruck sowie die Wiedereinrichtung der Aurachtalbahn zwischen Erlangen-Bruck und Herzogenaurach - und damit der Bau der kürzest möglichen direkten schienengebundenen Städteverbindung zwischen Nürnberg, Erlangen und Herzogenaurach. Damit wären eine Anbindung des Nürnberger Straßenbahnnetzes (Linie 4) an das Universitäts-Südgelände, den Siemenscampus und die S-Bahnstrecke Nürnberg-Bamberg über den Bahnhof Erlangen-Bruck sowie eine Verbindung zwischen dem Bahnhof Erlangen-Bruck und der Stadt Herzogenaurach hergestellt.

Mit diesen Schienentrassen kann ein Verkehrskonzept für den Großraum Nürnberg-Erlangen-Herzogenaurach mit einer zukunftsfähigen Kombination aus Straßenbahn, regional optimiertem Bussystem (RoBus) sowie innovativem Bus-Rapid-Transit-System (BRT) weiter entwickelt werden.

Unser entsprechender F.W.G.-Stadtratsantrag wird mit großer Wahrscheinlichkeit abgelehnt werden. Dann brauchen wir ein Bürgerbegehren, aber mit drei Wahlmöglichkeiten: (1) Ja zur StUB, (2) Nein zur StUB und (3) unsere Alternative - die Städte-Verbindungs-Bahn. Die Gründung des StUB-Zweckverbandes Nürnberg-Erlangen-Herzogenaurach lehnen wir mit aller Entschiedenheit ab.

Ihr Gunther Moll Ihre Anette Wirth-Hücking

(veröffentlicht in „Erlanger Nachrichten“, 29.10.2015)

Offener Brief an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Erlangen:

Erlangen - barrierefrei?

Verehrte Damen und Herren,

die Umsetzung der Völkerrechte ist die erste Aufgabe eines Politikers, die Aufhebung aller Barrieren die erste Voraussetzung persönlicher Freiheit. Völkerrechtlich durch die UN-Behindertenrechtskonvention verbrieft, muss seit Februar 2009 allen Menschen - auch in unserer Stadt - die Barrierefreiheit ermöglicht werden.

Deren Finanzierung hat zwei Seiten. Zum einen müssen alle städtischen Projekte und Baumassnahmen so weit zurückgestellt werden, bis die Barrierefreiheit hergestellt ist. Zum anderen muss der Freistaat die Hauptlast tragen. Der Herr Ministerpräsident setzte hierzu in seiner letzten Regierungserklärung (November 2013) das zeitliche Ziel: „Bayern wird in zehn Jahren komplett barrierefrei“ - und zwar im gesamten öffentlichen Raum.

2013 + 10 = 2023. Aus dieser Rechnung entstand die Idee zum Antrag der F.W.G. Erlangen - Barrierefrei 2023 schnellstmöglich umsetzen: „Sämtliche in der Zuständigkeit der Stadt Erlangen stehende Gebäude, Einrichtungen und Transportmittel werden barrierefrei ausgestattet, damit eine unbehinderte Zugänglichkeit und Mobilität für alle Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung in der Stadt Erlangen bis spätestens Ende 2023 gewährleistet ist.“ Doch Stadtspitze und -verwaltung gelang es, diesen Stadtratsantrag nur als Kenntnisnahme den Ausschüssen vorzulegen und so als „bearbeitet“ zu beenden.

Fast ein Jahr später ergab sich eine neue Gelegenheit. Die bayerische SPD fasste im April diesen Jahres auf ihrem kleinen Parteitag einen Grundsatzbeschluss zur Barrierefreiheit. So wurde der Antrag - mit der Erweiterung: „Zur hierfür notwendigen umfassenden Mitfinanzierung des Landes fordern wir die bayerische Staatsregierung - gemäß der Regierungserklärung des Herrn Ministerpräsidenten - mit Nachdruck auf, das Landesprogramm „Bayern Barrierefrei 2023“ mit den notwendigen Mitteln auszustatten, damit ein entsprechender Landesanteil für unsere Stadt übernommen werden kann“ - erneut eingereicht, und im Juni im Stadtrat zur Abstimmung gebracht.

Hier sollte es eine klare Mehrheit geben, und nicht nur, weil die Gewährleistung eines Völkerrechtes anstand: Die stärkste Stadtratsfraktion hatte die Regierungserklärung ihres Ministerpräsidenten als Vorlage, die zweitstärkste Fraktion die Gelegenheit, ihrem Grundsatzbeschluss „Bayern barrierefrei“ Taten folgen zu lassen.

Dass dieser Antrag, der mir so am Herzen lag, aber keine Mehrheit fand - ja sogar von den Stadträtinnen und -räten von CSU, SPD, Grüner Liste und FDP ohne jede Wortmeldung geschlossen abgelehnt wurde - ist für mich Ansporn, noch stärker für die Erfüllung der Völkerrechte einzutreten.

Ihr Gunther Moll

(veröffentlicht in „Erlanger Nachrichten“, 10.07.2015)

Offener Brief an die Schülerinnen und Schüler des Marie-Therese Gymnasiums:

Eine Lehrstunde?

Verehrte Schülerinnen und Schüler des MTG,

Euer großer persönlicher Einsatz hatte keinen Einfluss auf die für Euch so enttäuschende Entscheidung. Dies war auch nicht möglich, das Abstimmungsergebnis stand schon lange fest. Stadtspitze und Rot-grün-gelbe Koalition wollten so wenig Geld wie möglich für Eure neue Sporthalle ausgeben. Dagegen hattet Ihr keine Chance.

Als Trost wurde Euch gesagt, diese Stadtratssitzung sei eine Lehrstunde der Demokratie gewesen! Habt Ihr bei den Abstimmungen gegen Euch in die Gesichter der Stadträtinnen und Stadträte geschaut? Keiner von Ihnen hat Euch in die Augen sehen können! Bei vielen war der Blick der Macht zu sehen - Wir entscheiden für unsere Interessen und über Eure Köpfe hinweg! Bei einigen gab es aber noch etwas anderes. Sie wirkten von ihrem Nein nicht überzeugt, in manchen Augen spiegelte sich sogar ein schlechtes Gewissen. Diese Stadtratsmitglieder waren gezwungen, gegen Euch zu stimmen. Nur wenige Stimmen von diesen hätten die Koalition gefährdet, und damit deren Macht vermindert.

Die Lehrstunde für Euch war deshalb folgendes: Erstens geht es um Macht. Zweitens wird die Macht von Wenigen durch das Instrument des Fraktions- und Koalitionszwangs ohne jede Rücksicht durchgesetzt. Und drittens seid Ihr nur Schülerinnen und Schüler und habt nichts zu melden.

Zweieinhalb Stunden später wurde noch der Tagesordnungspunkt Landesgartenschau behandelt. Dafür gab es sofort große Zustimmung (und unsere Gegenrede, dass wir dafür kein Geld haben, wurde nur belächelt). Mitten durch diese Gartenschau würde die Autobahn A73 führen. Zur dadurch starken Lärmbelästigung der Besucher sagte ein Mitglied der Fraktion, die Eure Wunschsporthalle zuvor für unbezahlbar gehalten hatte - Wir umbauen den Frankenschnellweg während der Gartenschauzeit dann eben auf beiden Seiten mit einer Wand. Dies ist ein Beispiel, für welche „wichtigen Dinge“ das bei Euch gesparte Geld verwendet werden soll …  

Bitte gebt trotz dieser Niederlage nicht auf, für Eure Interessen und Wünsche zu kämpfen! Wir werden wieder auf Eurer Seite sein.  

Es grüßen Euch,

Gunther Moll
Anette Wirth-Hücking

(veröffentlicht in „Erlanger Nachrichten“, 13.04.2015)

Leserbrief des Tages

Eltern, Kinder, Familien

Zwei Menschen leben, vom ersten Moment an, an dem „Kinder bekommen“ Thema wird, in gemeinsamer Verantwortung. Und sie brauchen als Eltern Zeit für Familie. Sehr viel Zeit. Ohne abgegrenzten „Schonraum“, sondern in Lebensräumen für Familien.

Wieso wird das Geschenk, Kinder zu haben, mit Einkommensverlusten gegengerechnet? Was für eine Vorstellung von Eltern, von deren Liebe und Verantwortung! Wieso muss eine „berufliche Auszeit“ erleichtert werden? Ist der Beruf das einzig Wichtige? Was für eine reduzierte Vorstellung, welcher Verlust - nicht an Einkommen, sondern an Zufriedenheit, Glück und Lebensfreude.

Beruf und Familie sind nicht vereinbar, aber beides ist gestaltbar in einer auf fast 90 Jahre verlängerten Lebenszeit. Das Zukunftsmodell ist ein gemeinsames Großziehen der Kinder durch ihre Eltern, die ihre Familie und ihre Berufe über ein- bis zwei Jahrzehnte abwechselnd oder gemeinsam in jeweiligen „Teilzeiten“ gestalten.

Gemäß der Präambel der UN-Kinderrechtskonvention, wonach „das Kind zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen sollte“. Dies muss der Staat allen Eltern, Kindern und Familien gewährleisten.

(veröffentlich in „Die Welt“, 01.12.2010, als Kommentar zu „Mutter, Vater, Kind“ von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder vom 26.11.2010)

Gastkommentar - Deutschland muss umdenken

Es gibt keine Behinderten

„Materie ist nicht aus Materie aufgebaut“, lautete die revolutionäre Erkenntnis der Quantenphysik. Das Grundlegende ist Form, Gestalt, Beziehung. „Es gibt keine Behinderungen mehr“, heißt die Quintessenz des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen.

In dieser Völkerrechtskonvention geht es um einen revolutionären Paradigmenwechsel: „Behinderung“ als solche wird nicht mehr in der betroffenen Person verankert, sondern in der Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Besonderheiten dieser Person als eine Facette gesellschaftlicher Vielfalt und Bereicherung aufnimmt und darauf reagiert. Es gilt der Satz: Kein Mensch ist behindert, er wird höchstens behindert.

Ist das Zauberwort der Quantenphysik Potenzialität, so heißt das neue Zauberwort unseres gesellschaftlichen Lebens Diversität. Alle Lebensbereiche, Gebäude, Verkehrsmittel, Kindergärten und Schulen sind so zu bauen, zu gestalten und zu organisieren, dass sie für alle offen stehen. Es geht um eine gesellschaftliche Neuorganisation. Dies muss unser Staat völkerrechtlich verbindlich und einklagbar in den nächsten Jahren leisten – dazu hat er sich mit der Anerkennung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet.

Auch der Alltag und das Leben von Menschen mit psychischen Störungen wird sich vollständig ändern müssen. Es steht eine neue Gestaltung ihrer Lebensräume an, etwa eine für Kinder mit einer „Aufmerksamkeitsdefizitstörung“ passenden Klassengröße und Unterrichtsdauer. Aus – quantenphysikalisch gesprochen – Potenzialität muss Realität werden, die Vielfalt, Reichhaltigkeit und Menschlichkeit bedeutet, ebenso das Ende von „Sondereinrichtungen“ wie Sonder(Förder)schulen, Heimen, Anstalten und Ähnliches. Dies alles ist finanzierbar und – mehr noch – der notwendige Einstieg in eine überfällige Diskussion der Definitionen von Wachstum und Wohlstand. Denn letztlich wird unsere Gesellschaft nur überlebensfähig sein, wenn wir unwirtschaftliches, an einer aggregierten Geldgröße, genannt BIP, festgemachtes Wachstum durch Qualität des Wachstums und die Ausrichtung des Wohlstandes an der Bezugsgröße Lebensqualität ersetzen.

Es gibt keine Menschen mit Behinderungen mehr. Dieser Paradigmenwechsel ist kein Wunschtraum, keine Vision. Er wird das Leben von uns allen lebendiger, spannender, bunter und vor allem glücklicher machen.

Gunther Moll und Martin Liepe

(veröffentlicht in „Die Welt“,  27.02.2010)

Gastkommentar - Menschenrechte sind Kinderrechte

Die Würde des Kindes

Auf die Frage „Was ist ein Kind?“ könnte die Antwort lauten: „Ein Kind ist ein Mensch, der sich in der Lebensphase der Kindheit befindet.“ Diese Antwort enthält zwei wichtige Begriffe: Mensch und Lebensphase. Ein Kind ist also ein Mensch! Ein Kind bleibt zwar nicht immer ein Kind, aber immer ein Mensch!

Die Kindheit bezeichnet eine von vielen Entwicklungsphasen im Leben eines Menschen. Nach der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen sind Kinder Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Im Kinderjugendhilfegesetz der Bundesrepublik Deutschland steht: Ein Kind ist, wer noch nicht 14 Jahre alt ist. Natürlicherweise, also biologisch gesehen, endet die Phase der Kindheit mit dem Eintritt der Geschlechtsreife. Die tritt in den Industrieländern heute zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr ein. In den menschlichen Gesellschaften unterliegt der Kindheitsbegriff also einer mehr kulturell als biologisch geprägten Betrachtungsweise. Dies bleibt nicht ohne Folgen und ist ein Grund für zahlreiche Fehleinschätzungen, wenn es darum geht, zu erkennen, was Kinder brauchen.

Was ist kindgerecht? Oder anders gefragt: Was sind Kinderrechte? Wenn Kinder Menschen sind, dann sind Kinderrechte Menschenrechte. Und Menschenrechte sind Kinderrechte. In der Kindheit werden die Grundlagen für die Entwicklung der Persönlichkeit geschaffen. Für die gesamte Spanne des menschlichen Lebens gilt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aber ab wann ist ein Mensch ein Mensch? Eine einfache biologische Frage, die eine einfache Antwort kennt: mit der Vereinigung von Ei und Samenzelle. Die Menschenwürde braucht sich nicht erst zu entwickeln. Niemand muss sie sich erst verdienen.

Anders sieht es mit der Persönlichkeit des Menschen aus. Diese Entwicklung ist von zahlreichen Bedingungen abhängig und verläuft daher für jeden Menschen einzigartig. In Artikel 2 des Grundgesetzes heißt es: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“. Dieser Artikel ist mit Weisheit gesegnet. Denn heute wissen wir, dass die Persönlichkeit eines Menschen an seine Entwicklung gebunden ist und diese wiederum maßgeblich von seinen Lebensbedingungen abhängt. Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasst daher den Anspruch auf den Schutz unserer Entwicklungsbedingungen von Anfang an.

Menschenrechte für Kinder umzusetzen bedeutet, die besonderen Bedingungen der Kinderzeit hervorzuheben und nach dem Stand des Wissens optimale Rahmenbedingungen für eine optimale Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder zu schaffen.

Gunther Moll

(veröffentlicht in „Die Welt“, 11.12.2007)